In dieser Folge beleuchten ASHTY & MARIUS mit Gandalf Lipinski den Übergang vom »Matriarchat« zum »Patriarchat« bzw. die Entstehung (und Ausbreitung) von Gewalt und Herrschaft
Quellen
[1] Wiederholung: Matriarchat
„In äußerster, begrifflicher Kürze […] besagt [die] strukturelle Definition, dass die matriarchale Gesellschaftsform
– Heide Göttner Abendroth: Das Matriarchat – Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats. Band III: Westasien und Europa, 2019, S. 15f.
- ökonomisch eine Ausgleichsgesellschaft ist, in der Frauen die lebensnotwendigen Güter wie Land, Häuser und Nahrungsmittel verwalten und durch Verteilung ständig für ökonomischen Ausgleich sorgen. Diese Ökonomie ist nicht akkumulierend, sondern verteilend im Sinne einer „Ökonomie des Schenkens“
- sozial auf einer matrilinearen Verwandtschaftsgesellschaft beruht, deren Hauptzüge ein Clan- oder Sippenwesen mit Matrilinearität (Verwandtschaft in der Mutterlinie) und mit Matrilokalität (Wohnsitz bei der Mutter) sind. Gleichzeitig gilt die Gleichwertigkeit der Geschlechter (Gender-Egalität).
- politisch eine Konsensgesellschaft darstellt, mit den Clanhäusern als realpolitischer Basis und einem Delegiertenwesen der Männer als Sprecher ihrer Sippen bei größeren, auswärtigen Versammlungen; diese haben darin ihren eigenen Aktionsbeeich und ihre Würden. In den meisten Fällen bringt dies nicht nur eine gender-egalitäre, sondern eine insgesamt egalitäre Gesellschaft hervor.
- kulturell auf einer sakralen Kultur beruht, die komplexe, religiöse und weltanschauliche Systeme besitzt, wobei eine grundlegende Vorstellung vom Leben auf der Erde und vom Kosmos der Wiedergeburtsglaube ist. Es gibt keine abgehobenen, abstrakten männlichen Götter, sondern das Weiblich-Göttliche in vielen Erscheinungen prägt das Weltbild; es wird als immanent in der Welt wirkend verstanden„
[2] Neolithische Revolution oder „als der Mensch zum Bauern wird“
„Vor etwa 2,5 Millionen Jahren entwickelte sich die GattungHomo in Afrika. […] Zwischen dem Ersten Homo und uns heutigen wurden ungefähr 83.300 Generationen geboren, davon lebte der Mensch 82.940 Generationen lang so, wie schon seine Ahnen gelebt hatten. Innerhalb von bloß 100 Generationen, einem Atemzug in der Historie, pflügt er wortwörtlich die Welt um. […] Die Bühne für diesen Umsturz wird schon um 11.000 v. Chr. bereitet: Die letzte Eiszeit endet […].
In Eurasien überstehen bloß 72 Säugetiere das [durch das veränderte Klima bedingte] Massensterben. […] es gibt eine [einzige] Region auf der Welt, die durch dieses milde Klima begünstigt wird. Und die zudem von gezackten Meeresküsten über Täler großer Flüsse bis zu Hochebenen, Halbwüsten und Gebirgen nahezu alle Lebensräume bietet. […] Es ist eine Landschaft, die ab 9000 v. Chr. zu einem gigantischen Laboratorium wird, in dem über Generationen hinweg Menschen, die sich kaum bewusst sind, was sie da tun, unfassbar viele der grundlegendsten Experimente aller Zeiten wagen.
Diese Herzkammer der Geschichte ist die Fruchtbare Halbmond: eine wenige hundert Kilometer breite, ungefähr sichelförmige Region von der Ostküste des Mittelmeer bis zum Persischen Golf. […] Die Winter sind mild und feucht; die Sommer heiß und trocken. Einjährige Pflanzen, die in dieser Gegend gedeihen, müssen bei Feuchtigkeit schnell wachsen sowie Samenkörner entwickeln, die Trockenheit überstehen. Sie bleiben klein, verwandeln nur wenig Energie in Holz und Stängel, treiben viele Samen aus, die monatelang nicht faulen.“
Da die Tiere seltener werden, müssen Menschen andere Nahrungsquellen finden und streifen durch die Gräser.
„Tausende Arten Wildgräser bedecken die Erde. Die meisten wachsen in nur wenigen Monaten bis zu einer bescheidenen Höhe heran und werfen dann winzige reife Samen ab, die bis zu vier Milligramm wiegen. Unter den mehreren tausend Spezies übertrifft das Gewicht der Samen bei nur 56 Spezies diesem Wert um das zehnfache, sie wiegen zwischen 10 und 40 Milligramm. Und von diesem 56 Arten kommen 32 im Fruchtbaren Halbmond vor […].
Irgendwann im Sommer geht ein Mensch durch hohe Gräser, streift die Körner ab und kaut sie. Das stillt seinen Hunger. Denn die Körner wilder Gräser sind reich an Kohlenhydraten, enthalten bis zu 14 Prozent Eiweiß und schmecken süßlich. […] Irgendwann rasten die ersten Clans, die zuvor durch das Land gezogen sind in der Nähe natürlicher Wiesen. […]
[Der Mensch] probiert immer neue Pflanzen aus, bis es kein Gras, keine Knolle, keine Frucht und keine Rinde mehr gibt, die er nicht irgendwann mal zwischen den Zähnen hatte. […]
[Er] beobachtet die Pflanzen im Zyklus der Jahreszeiten. […] Und irgendwann macht ein Sammler eine seltsame Entdeckung: Bei manchen Gräsern fallen die reifen Samen mit ihrer schützenden Hülle nicht vom Stängel. Ursache ist ein Gendefekt – ein einziger Fehler in der Ordnung von Chromosomen. […]
Gerade diese Mutationen der Vorgänger von Gerste und Weizen gelangen in die Siedlungen. Dort verlieren manche Menschen Körner, andere gelangen unversehrt durch den Verdauungstrakt und werden hinter Büschen wieder ausgeschieden. Körner, die ohne das zutun von Menschen niemals keinem würden, gelangen so in den Boden. […] Und schließlich […] hat ein Mensch die die Idee, Körner ebenjener besonders gut geeigneter Ähren zu nehmen und per Hand auf einem geeigneten Stück Land auszustreuen, um sie im Jahr darauf zu ernten. […]
Es ist ein Jahrhunderte währendes Freiland-Genexperiment von Forschern, die noch nichts von Chromosomen wissen, doch unendliche geduldige Beobachter ihrer Natur sind.“
Mit jeder Generation nimmt die Erfahrung zu. Irgendwann werden aus Gräsern Obst.
„Die Bauern experimentieren aber nicht nur mit Körnern und Früchten. Denn für die inzwischen sesshaften Menschen wird es immer mühseliger, den schrumpfenden Gazellenherden zu folgen – warum die Tiere nicht zum Dorf holen, statt ihnen hinterherzutragen? Sie fangen daher Wildtiere aller Arten ein, die sie nicht sofort erlegen, sonden in Arealen, die wohl mit Dornenhecken oder einfachen Zäunen begrenzt sind, bei ihrem Dorf halten. Aus ihnen entwickeln sich Haustiere. […]
Am Ende ist es […] bis heute nur bei 14 Spezies großer Säugetiere gelungen, sie zu domestizieren, bloß fünf davon erreichen globale haben globale Bedeutung erlangt: Schaf, Ziege, Schwein, Rind und Pferd.“
– Cay Rademacher: Als der Mensch zum Bauern wird, in: GEOkompakt: Die Geburt der Zivilisation. Der Aufbruch des Menschen in die Moderne, 2013, S. 59-66
– vgl. dazu auch Wikipedia: Neolithische Revolution, online, abgerufen am 24.12.2023, https://de.wikipedia.org/wiki/Neolithische_Revolution
[3] Saharasia-These von James DeMeo
Zusammenfassung
„In Saharasia habe ich die weltweiten geographischen Muster repressiver, schmerzhafter, traumatisierender, gewalttätiger, gepanzerter, patristischer Verhaltensweisen und sozialer Institutionen, welche die Bindungen zwischen Mutter und Kind sowie zwischen Mann und Frau zerstören, anhand einer systematischen Analyse anthropologischen Datenmaterials von 1170 eingeborenen Subsistenzkulturen ermittelt und zueinander in Beziehung gesetzt. Nach Abschluß der Kartographierung zeigte sich, daß der extrem trockene Wüstengürtel, der sich von Nordafrika über den Nahen Osten bis nach Zentralasien erstreckt und dem ich den Namen Saharasia gegeben habe, die größte Ausdehnung der radikalsten patristischen Verhaltensweisen und sozialen Institutionen des Planeten Erde aufweist. In Gebieten mit dem größten Abstand zu Saharasia, wie in Ozeanien und der Neuen Welt, fanden sich die sanftmütigsten, ungepanzertsten, matristischsten Verhaltensformen, welche die Bindungen zwischen Mutter und Kind sowie Mann und Frau fördern und schützen.
Eine systematische Sichtung archäologischer Funde und historischer Dokumente deutete auf eine anfängliche Entwicklung des Patrismus um 4000 v.Chr. in Saharasia hin, einem Zeitpunkt tiefgreifenden ökologischen Wandels von einem relativ feuchten Klima mit Savannenlandschaften und Wäldern zu trockenen Wüstenbedingungen. Siedlungsmuster und Wanderungsbewegungen patristischer Völker wurden von ihren ursprünglichen Heimatgebieten in Saharasia aus nachgezeichnet, um das spätere Auftreten des Patrismus in Regionen außerhalb Saharasias zu erklären. Beweise für matristische Verhältnisse vor dem Einsetzen trockener Bedingungen in Saharasia finden sich allerorten, während es generell keine Anzeichen für Patrismus gibt.
Ich vertrete die Ansicht, daß der Matrismus die früheste, originäre und angeborene Form menschlichen Verhaltens und gesellschaftlicher Organisation darstellt, indes der Patrismus, aufrechterhalten durch traumatisierende soziale Institutionen, beim Homo sapiens erstmals in Saharasia unter dem Einfluß schwerster Dürren, Hungersnöten und erzwungener Migration in Erscheinung trat. Die psychologischen Erkenntnisse Wilhelm Reichs ermöglichen das Verständnis der Mechanismen, durch welche sich patristische (gepanzerte, gewalttätige) Verhaltensweisen etablieren und fortbestehen, lange nachdem das auslösende Trauma vergangen ist. […]
Matristische versus patristische Kultur: Kindheitstraumata und Sexualunterdrückung als Wurzeln der Gewalt
Als eine Überprüfung der sexualökonomischen Theorie Wilhelm Reichs (1935, 1942, 1945, 1947, 1949, 1953, 1967, 1983) war meine Forschungsarbeit anfänglich darauf ausgerichtet, eine globale geographische Analyse sozialer Faktoren vorzunehmen, die mit Kindheitstraumata und sexueller Unterdrückung in Verbindung stehen. Reichs Theorie, die sich aus der Psychoanalyse entwickelte und später davon abspaltete, beschreibt destruktive Aggression und sadistische Gewalt des Homo Sapiens als einen völlig unnatürlichen Zustand, welcher aus einer traumatisch bedingten chronischen Hemmung der Atmung, des emotionellen Ausdrucks und jeglicher lustorientierter Impulse resultiert. Reich zufolge wird dieses Verhalten im Individuum mittels bestimmter schmerzvoller und lustfeindlicher Rituale und sozialer Institutionen verankert, die bewußt oder unbewußt der Bindung zwischen Mutter und Kind sowie zwischen Mann und Frau entgegenwirken. Diese Rituale und Institutionen existieren sowohl bei „primitiven“ Subsistenzkulturen als auch bei technologisch entwickelten „zivilisierten“ Gesellschaften.
Einige Beispiele für unbewußtes bzw. rationalisiertes Zufügen von Schmerz bei Neugeborenen und Kindern sind: Trennung und Isolierung des Babys von der Mutter, Gleichgültigkeit gegenüber Weinen und Schreien des verzweifelten Kindes, Immobilisierung durch ständiges Festeinwickeln des ganzen Körpers, Verweigerung der Brust bzw. verfrühtes Entwöhnen, Beschneiden von kindlichen Körperteilen, gewöhnlich der Genitalien, erzwungene Reinlichkeitserziehung, bevor das Kleinkind seine Ausscheidungsfunktionen effektiv kontrollieren kann, und die durch Drohungen oder körperliche Züchtigungen durchgesetzte Forderung, ruhig, gehorsam und nicht neugierig zu sein. Andere kulturelle Gepflogenheiten, die darauf abzielen, die aufkeimende kindliche Sexualität zu kontrollieren oder zu zerstören, sind das weibliche Jungfräulichkeitstabu, auf das jede Kultur besteht, die einen patriarchalen hohen Gott verehrt, sowie die mittels Strafen und Erzeugung von Schuldgefühlen erzwungenen arrangierten Ehen. Die meisten dieser rituellen Strafmaßnahmen und auferlegten Beschränkungen fallen für Frauen weit schmerzhafter aus, obgleich auch Männer in gewissem Ausmaß davon betroffen sind. Die Erwartung, Schmerzen auszuhalten, Gefühle zu unterdrücken und älteren (üblicherweise männlichen) Autoritätsfiguren unkritischen Gehorsam in allen Lebensfragen entgegenzubringen, zählt zu den zentralen Aspekten solch repressiver sozialer Strukturen. Sie schließen auch die Kontrolle über das Verhalten der Erwachsenen mit ein und werden gewöhnlich von jedem einzelnen, ungeachtet ihrer schmerzvollen, lustfeindlichen oder gar lebensbedrohlichen Konsequenzen, aktiv unterstützt und kritiklos als „gute, charakterbildende Erfahrungen“ verteidigt, die Teil der „Tradition“ sind.
Tatsächlich aber werden alle neurotischen, psychotischen, selbstzerstörerischen und sadistischen Züge menschlichen Verhaltens, so argumentierte Reich, von eben solchen schmerzhaften und repressiven sozialen Einrichtungen erst hervorgerufen und kommen dann in einer Fülle von sowohl verdeckten, unbewußten als auch überaus deutlichen und offensichtlichen Formen zum Ausdruck.
[…]
Gegenüberstellung von matristischen bzw. patristischen Verhaltensweisen, Einstellungen und sozialen Institutionen
Merkmal patristisch (gepanzert) matristisch (ungepanzert) Säuglinge Kinder und Jugendliche wenig Behutsamkeit und Nachsicht;
wenig körperliche Zuwendung;
traumatisierte Babies;
schmerzhafte Initiationsriten;
Kinder von der Familie dominiert;
Geschlechtertrennung privat und öffentlichviel Behutsamkeit und Nachsicht;
viel körperliche Zuwendung;
keine traumatisierten Babies;
keine schmerzhaften Initiationen; Kinderdemokratien;
keine Geschlechtertrennung, weder privat noch öffentlichSexualität eingeschränkt und mit Angst besetzt;
genitale Verstümmelungen;
weibliches Jungfräulichkeitstabu; Geschlechtsverkehr tabuisiert; Liebesbeziehungen zwischen Jugendlichen
streng verboten;
homosexuelle Neigungen sowie strenges Tabu; Inzestneigungen sowie strenges Tabu; Konkubinat/Prostitution weit verbreitetbegrüßt und mit Lust empfunden;
keine genitalen Verstümmelungen;
Fehlen von Jungfräulichkeitstabus; Geschlechtsverkehr nicht tabuisiert;
Liebesbeziehungen unter Jugendlichen werden gutgeheißen;
keine homosexuellen Tendenzen, kein entsprechendes Tabu; keine Inzestneigungen, kein entsprechendes Tabu;
Fehlen von Konkubinat oder ProstitutionFrauen: Freiheit eingeschränkt;
minderwertiger Status;
vaginales Bluttabu (hymenale, menstruale
und geburtliche Blutungen);
keine freie Wahl des Ehepartners;
keine Scheidungsmöglichkeit; Fruchtbarkeit von Männern kontrolliert; Fortpflanzungsfunktionen geringgeachtetfrei gleichberechtigt;
kein vaginales Bluttabu;
freie Wahl des Ehepartners;
Scheidung nach Wunsch;
Fruchtbarkeit unter Kontrolle der Frauen; Fortpflanzungsfunktionen verehrtKultur, Familie, Sozialstruktur autoritär;
hierarchisch;
patrilineare Abstammung;
patrilokaler ehelicher Wohnsitz;
lebenslange Zwangsmonogamie oder Polygamie;
politischer und ökonomischer Zentralismus; betonter Militarismus, entsprechende Institutionen;
gewalttätig, sadistischdemokratisch;
egalitär;
matrilineare Abstammung; matrilokaler ehelicher Wohnsitz;
keine Zwangsmonogamie, selten bis gar keine Polygamie; arbeitsdemokratische Strukturen;
kein hauptberufliches Militär;
gewaltlos, kein SadismusReligion männerorientiert, Vaterfiguren;
Askese, Vermeidung von Lust, schmerzhafte Rituale; Beherrschung;
Angst vor Naturfunktionen; vollzeitbeschäftigte religiöse Experten; männliche Schamanen und Heiler; strikte Verhaltensregelnweiblich orientiert, Mutterfiguren;
lustbetont, seelische u. körperliche Befriedigung
wird angestrebt; Spontaneität;
Naturverehrung;
keine speziellen Religionsexperten;
Schamanen und Heiler beiderlei Geschlechts; Fehlen strikter Verhaltenskodices[…]
Die geographischen Gesichtspunkte dieser Erkenntnisse sind besonders aufschlußreich, wie eine systematische globale Auswertung ergab (DeMeo 1985, Kap. 6 & 7 aus 1986): die in den archäologischen Schichten gefundenen Veränderungen wiesen weltweit ganz bestimmte Muster auf. Entweder wandelten sich ganze Regionen innerhalb desselben Zeitraums vom Matrismus zum Patrismus oder der Übergang zum Patrismus erfolgte kontinuierlich über mehrere Jahrhunderte hinweg von einem Ende eines Kontinents zum anderen. Von erheblicher Bedeutung war die Entdeckung, daß die frühesten dieser kulturellen Transformationen in ganz bestimmten Gegenden der Alten Welt stattgefunden hatten (insbesondere in Nordafrika, im Nahen Osten und in Zentralasien), und zwar einhergehend mit umwälzenden Umweltveränderungen von relativ fruchtbaren Bedingungen zu Wüsten um ca. 4000 bis 3500 v.Chr. Außerhalb dieser neuentstandenen Wüstengebiete trat der Patrismus im allgemeinen später in Erscheinung und läßt sich zeitlich in Verbindung bringen mit Völkerwanderungen aus den ariden in die angrenzenden fruchtbaren Territorien.
Das Vorhandensein jener zeitgleich umweltbedingten und kulturellen Veränderungen war in Anbetracht bestimmter weiterer Forschungsergebnisse außerordentlich wichtig: diese Untersuchungen legten nahe, daß verheerende Dürren und Hungersnöte die Bindungen zwischen Mutter und Kind sowie Mann und Frau in genau der gleichen traumatischen Weise zu zerstören vermögen wie jede unerbitterliche und peinigende patristische soziale Institution.
Soziales Elend in von Dürre, Wüstenbildung und Hungersnot gekennzeichneten Gebieten
Dieser Zusammenhang läßt den Schluß zu, daß wiederholte schwere Dürren mit Wüstenbildung, die unter Subsistenzgesellschaften Hungersnöte, Unterernährung und Massenwanderungen zur Folge hatten, entscheidende Faktoren dafür gewesen sein müssen, bei frühen matristischen Kulturen einen allmählichen und gar abrupten Wandel zum Patrismus auszulösen. Dazu einige Beispiele:
1) Jüngere Augenzeugenberichte von kulturellen Veränderungen während einer Hungersnot beschreiben einen Zusammenbruch der sozialen und familiären Bindungen. Turnbulls (1972) erschütternde Dokumentation über das Volk der Ik in Ostafrika bringt dies sehr deutlich zum Ausdruck, und ähnliche Beobachtungen anderer Forscher stimmen damit überein (Cahill 1982; Garcia 1981; Garcia & Escudero 1982; Sorokin 1975).
Unter den extremsten Hungerbedingungen verlassen die Männer auf der Suche nach Nahrung ihre Frauen und Kinder und kehren meist nicht zurück. Verhungernde Kinder und ältere Familienmitglieder werden in der Folge sich selbst überlassen, um allein ums Überleben zu kämpfen oder zu sterben. Kinder schließen sich zu umherziehenden Banden zusammen, die Nahrung stehlen, während die verbliebenen Sozialstrukturen völlig zusammenbrechen. Das Band zwischen Mutter und Kind scheint am längsten zu halten, doch schließlich verlassen auch die verhungernden Mütter ihre Babies.
2) Klinische Untersuchungen der Folgen von hochgradiger Eiweißmangelernährung bei Säuglingen und Kleinkindern weisen darauf hin, daß Hunger ein Trauma schwersten Ausmaßes ist. Ein an Marasmus oder Kwashiorkor leidendes Kind zeigt Symptome von Kontaktlosigkeit, Unbeweglichkeit und, im schlimmsten Fall, die Einstellung des Körper- und Gehinwachstums. Falls das Hungern lange genug andauert, kann es passieren, daß es selbst nach Wiedereinsetzen der Ernährung nicht mehr zu einer Erholung der vollen Leistungsfähigkeit kommt und leichte bis erhebliche physische und emotionale Entwicklungsschäden auftreten. Weitere bekannte Auswirkungen von Hunger und Unterernährung auf Kinder als auch Erwachsene schließen u.a. die Verringerung der allgemeinen emotionellen Vitalität und der sexuellen Energie ein und können ebenfalls über die Wiederherstellung der Nahrungsversorgung hinaus anhalten.
Maßgeblich ist, daß das Baby unter Hungerbedingungen in nahezu identischer Weise körperlich und emotionell kontrahiert und sich in sich selbst zurückzieht, wie es auf das Trauma von fehlender mütterlicher Fürsorge und Isolation reagiert. Alle diese Erfahrungen ziehen klare, lebenslange Folgen nach sich, welche die Fähigkeit des Erwachsenen beeinträchtigen, gefühlsmäßige Bindungen sowohl zum Lebensgefährten als auch zum eigenen Nachwuchs aufzubauen (Aykroyd 1974; Garcia & Escudero 1982; Prescott, Read & Coursin 1975).
3) Eine Reihe weiterer traumatischer Faktoren stehen insbesondere mit der harten Lebensweise in Wüsten und Dürregebieten in Verbindung. Ein wichtiges Beispiel stellt die Verwendung eines bestimmten Rückentragegestells bei den Nomadenvölkern Zentralasiens dar, das für das Baby zur doppelten Qual von Schädelverformung und immoblisierendem Festeinwickeln des ganzen Körpers führte. Die kulturelle Institution der Schädeldeformation beim Säugling verschwand um die Wende zum 20. Jahrhundert, doch das kokonartige Einwickeln scheint zwischen Osteuropa und Ostasien bis heute üblich zu sein.
Normalerweise wird ein Baby, das solcherart schmerzhaftem Einbinden ausgesetzt ist, versuchen, sich zu befreien und laut schreien, um die Aufmerksamkeit und Hilfe eines Erwachsenen anzuziehen. Ich vermute allerdings, daß dies bei hungerleidenden Säuglingen in einem körperfixierenden (und oftmals kopfquetschenden) Rückentragegestell während eines langen Marsches unter sengender Sonne nicht der Fall ist. Unter extremen Dürre-und Hungerbedingungen werden die Erwachsenen zunehmend kontaktlos und sind weniger aufmerksam und willens, ständig anzuhalten, um ein im schmerzenden, kopfverformenden Tragegestell festgezurrtes Kind zu beruhigen.
Als die Wüstenbildung in Zentralasien voranschritt, entwickelte sich das Herumziehen von einem Ort zum anderen zu einer relativ dauerhaften Lebensweise. Die archäologischen Funde weisen darauf hin, daß Schädeldeformation und immobilisierendes Festwickeln in diesen Regionen schließlich ein institutionalisierter Bestandteil der Kindererziehung wurden (DeMeo 1986, S. 142-152; Dingwall 1931; Gorer & Rickman 1962). Sie stiegen sogar zum Erkennungmerkmal sowie beliebten sozialen Einrichtung dieser Völker auf und blieben selbst bestehen, nachdem die nomadische zugunsten einer seßhaften Existenz aufgegeben worden war. Weitere folgenreiche Gepflogenheiten wie männliche und weibliche genitale Verstümmelung (Beschneidung, Infibulation) haben ihren geographischen Schwerpunkt und Ursprung im großen Wüstengürtel der Alten Welt, wenn auch aus Gründen, die nicht ganz klar sind.
[…]
Geographische Aspekte von Anthropologie und Klimatologie
Mein erster Überblick über Verhalten und soziale Institutionen bei einer Auswahl von 400 verschiedenen eingeborenen Subsistenz-Völkern aus aller Welt legte nahe, daß die mit Abstand patristischsten Ethnien in Wüsten lebten (DeMeo 1980), obgleich nicht ausschließlich. Eine systematischere und entscheidende globale Analyse anhand von 1170 Kulturen bestätigte später die Wüste-Patrismus-Beziehung, zeigte aber auch, daß diese Regel nicht für alle semiariden oder gar vollkommen trockenen Wüsten galt, solange eine begrenzte Ausdehnung die Nahrungs- und Wasserversorgung mit Hilfe einer kurzen Reise sicherstellte.
[…]
Die Entstehung des Patrismus in Saharasia
Nach etwa 4000 bis 3500 v.Chr. werden in den Überresten vormals friedlicher matristischer Siedlungen in den Flußtälern Zentralasiens, Mesopotamiens und Nordafrikas radikale soziale Veränderungen sichtbar. In allen Fällen treten Zeugnisse für zunehmende Trockenheit und Preisgabe des Landes gemeinsam mit Hinweisen auf, daß Siedlungen mit gesicherter Wasserversorgung wie in Oasen oder an Wüstenflüssen unter den Druck einwandernder Völker gerieten. In Zentralasien führten die Wasserstandsveränderungen in Seen und Flüssen infolge klimatischer Instabilität und Trockenheit zur Auflösung riesiger Agrargemeinschaften mit hochentwickelter Bewässerungstechnik.
Siedlungen entlang des Nil, an Euphrat und Tigris sowie in den feuchteren Hochlandregionen der Levante, Anatoliens und Irans wurden von Völkern überfallen und erobert, die aus dem immer weiter austrocknenden Arabien bzw. Zentralasien kamen, und kurze Zeit später entstanden an ihrer Stelle neue despotische Staatswesen. Festungsbau, Grab- und Tempelarchitektur mit Belegen für rituellen Witwenmord (d.h. Muttermord, wenn vom ältesten Sohn ausgeführt), Schädeldeformation, Hervorhebung von Pferd und Kamel sowie Aufbau von Militär folgten diesen Invasionen in nahezu jedem Fall, den ich untersuchte.
Alle diese neuen tyrannischen Zentralstaaten gewannen an Macht und unterwarfen, was immer an nomadischen Hirtenstämmen noch in der ausdörrenden Steppe lebte. Einige der despotischen Staatswesen fielen regelmäßig in die fruchtbaren, an Saharasia angrenzenden Gegenden ein, um ihr Territorium zu vergrößern. Entweder sie eroberten die dort ansässigen Völker oder, wenn dies mißlang, veranlaßten sie zu Verteidigungsmaßnahmen, die aus dem nachfolgenden Auftauchen von Befestigungsanlagen, Waffentechnik und einem Zwischenstadium des Patrismus ersichtlich sind. Andere Imperien in Saharasia verschwanden schließlich aus dem Blickfeld der Geschichte, als die Trockenheit sich verschlimmerte und ihnen die Existenzgrundlage nahm (DeMeo 1985, Kap. 6 aus 1986).
Die Ausbreitung des Patrismus in die Grenzländer von Saharasia
Der Patrismus trat in den fruchtbareren Nachbarregionen erst in Erscheinung, nachdem er sich im austrocknenden Kernland von Saharasia entwickelt hatte. Je weiter die Dürre innerhalb Saharasias um sich griff und seine Bewohner darauf zunehmend mit Panzerung und Patrismus reagierten, desto häufiger brachten Wanderungsbewegungen diese Menschen in Kontakt mit friedlicheren Völkern in den regenreicheren Grenzgebieten. In immer stärkerem Maße nahmen diese Auswanderungswellen den Charakter massiver Invasionen an. In den angrenzenden Regionen verankerte sich der Patrismus nicht aufgrund von Dürrekatastrophen und Hungertraumata, sondern durch die Vernichtung der ursprünglich matristischen Bevölkerung und ihre Ersetzung durch die patristischen Eroberer bzw. vermittels aufgezwungener Übernahme der patristischen gesellschaftlichen Institutionen der Invasoren.
Europa wurde beispielsweise ab 4000 v.Chr. nacheinander von den sogenannten Streitaxt-Völkern (oder Kurgans), den Skythen, Sarmaten, Hunnen, Mongolen, Arabern und Türken überfallen. Sie alle nahmen die Gelegenheit wahr, das Land mit Krieg zu überziehen, zu erobern, zu plündern und Europas Wesensart damit immer mehr in Patrismus zu verwandeln. Die europäischen Völker verloren schrittweise ihren matristischen Charakter. Die westlichsten Länder mit dem größten Abstand zu Saharasia, insbesondere die Britischen Inseln und Skandinavien, entwickelten patristische Institutionen am spätesten und in abgeschwächterer Form als der Mittelmeerraum oder Osteuropa, welche unter intensiverem Einfluß Saharasias standen.
[…]
Schlussfolgerungen
[…] Angesichts des hier vorgestellten neuen Beweismaterials läßt sich der Patrismus mit seinen kindesmißhandelnden, frauenverachtenden, sexualunterdrückenden und zerstörerisch-aggressiven Merkmalen am besten und einfachsten als eine kontraktive emotionelle und kulturelle Reaktion auf die traumatischen Hungerbedingungen erklären, welche mit der Austrocknung Saharasias um 4000 v.Chr. erstmals in Erscheinung traten; eine Reaktion, die sich in der Folge mit Hilfe der Migrationen der betroffenen traumatisierten Völker und ihrer veränderten sozialen Institutionen aus der Wüste heraus ausbreitete.“
– James DeMeo: Saharasia Discovery and Research. Summary Article on Saharasia, 1990, Übersetzung von: Thomas Harms, Raphaela Kaiser und Dasa Brückner, online, http://www.orgonelab.org/saharasia_de.htm
– vgl. dazu auch James DeMeo: Saharasia: Geographical Comparisons of World Cultures and Civilizations, November 2013, online, https://www.researchgate.net/publication/258566665_Saharasia_Geographical_Comparisons_of_World_Cultures_and_Civilizations
– bzw. das aus seiner Dissertation (»On the Origins and Diffusion of Patrism: The Saharasian Connection«) abgeleitete Buch: James DeMeo: Saharasia: The 4000 BCE Origins of Child Abuse, Sex-Repression, Warfare and Social Violence, In the Deserts of the Old World, 2011, S. 91 ff.
[4] Kurgan-These von Heide Göttner-Abendroth
„Ab dem 6. Jt. ging die günstige Periode in den Steppen durch rapide Austrocknung erstmals zu Ende, was sich drastisch in der Grassteppe und etwas langsamer in der Waldsteppe auswirkte. Die neolithischen Völker mit Dauersiedlungen in diesen Zonen gerieten in Bedrängnis, der Boden unter ihren Füßen wurde zunehmend unfruchtbar, Flussläufe versiegten, Seen schrumpften oder verschwanden ganz und hinterließen salzige, rissige Flächen. Wie viele Siedlungsgemeinschaften dabei zugrunde gegangen sind, wissen wir nicht. Andere suchten verschiedene Antworten auf die schleichende Katastrophe, aber nur diejenigen, die neue Lösungen fanden, führten die Geschichte weiter. Das Ergebnis waren tiefgreifende Veränderungen ab Mitte des 5. Jt., die eine vollständige Umwälzung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse brachten.
Eine erste Antwort war die Intensivierung der Jagd (Sekundärjäger), die aber Grenzen hatte, denn die Artenvielfalt an Großtieren wie noch in der Altsteinzeit gab es nicht mehr. So hielt man sich an die Wildpferde, von denen sich riesige Herden in den eurasischen Steppen tummelten. Die Jagd auf Wildpferde war den Menschen seit der Altsteinzeit vertraut, sie kannten seit langem das Verhalten dieser Tiere. Eine zweite Antwort war die Erweiterung der kleinen Gruppen von Haustieren zu großen Herden von Schafen, Ziegen und Rindern, um auf diese Weise das Nahrungsangebot zu sichern.
Aber die Haltung großer Herden verlangte eine erhöhte Mobilität, denn sie ließen sich nicht mehr zu Fuß zusammenhalten. Zudem mussten nun ausgedehnte Wanderungen unternommen werden, um neue Weiden für die vielen Tiere zu finden. Darum war eine dritte Antwort die Domestikation des Wildpferdes, die im 5. Jt. am Ural einsetzte. […] Aber auch zahme Pferdeherden lassen sich nicht zu Fuß zusammenhalten, so dass es fast zwangsläufig dazu kam, das Pferd als Reittier zu nutzen. Nun konnten die Herden sämtlicher Tiere vom Pferd aus gehütet werden, was wiederum zur Vergrößerung der Herden führte, so dass die Viehzucht in den westasiatischen Steppen (Kasachstan) einen enormen Aufschwung nahm Den Menschen war bei dieser veränderten Wirtschaftsweise allerdings nicht bewusst, dass die wachsenden Schaf- und Ziegenherden dem ohnehin ausdörrenden Land noch mehr Schaden zufügten und die Wüstenbildung förderten.
Die beiden Tätigkeitsbereiche der Jagd und der Weidewirtschaft mit großen Herden waren schon immer die Domäne der Männer gewesen. Demgegenüber schrumpfte der ohnehin geringe Feldbau, die Domäne der Frauen, noch mehr. Obwohl die Siedlungen an Wasserläufen erbaut worden waren, konnte er nicht gedeihen, denn viele kleinere Flüsse versiegten. Das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern verschob sich zum Nachteil der Frauen, die zunehmend von der Nahrungsbeschaffung der Männer abhängig wurden. Es entstand eine männerdominierte Hirtenkultur, aber noch keine Nomadenkultur, denn die Menschen blieben an die Siedlungen gebunden. Die Wanderungen mit den Herden waren saisonal: Man zog in den Sommermonaten auf die entfernten Weiden oder auf die hochgelegenen Bergwiesen, blieb im Winter aber bei den Dörfern. Es gab eine gewisse Ortsgebundenheit, auch wenn die Orte oft verlegt wurden. Denn von den Häusern jener Zeit fanden die Archäologen fast keine Spuren, was auf eine leichte und mobile Bauweise hinweist. Das einzig Feste für die Menschen waren die Begräbnisplätze als Orte ihrer Ahnen, die sie immer wieder aufsuchten. Auch westlich des Ural bildeten sich von Pferden abhängige Hirtenkulturen heraus. Hier fand man kleine Pferdeskulpturen und Pferdeknochen auf Opferstellen, was zeigt, dass dem Pferd nun eine religiöse Bedeutung gegeben wurde (Samara-Kultur an der Wolgaschleife, 6./ 5. Jt.).
An der mittleren Wolga entwickelte sich eine Folgekultur, wo Pferdeopfer auf Männergräbern erscheinen, die ebenfalls rituelle Bedeutung besaßen (Chvalynsk, 4.700-3.800). Hier traten auch zuerst die Status-Symbole der neuen, männerdominierten Hirtenkultur auf: lange Feuersteindolche, Steinäxte und Steinkeulen, die wie Pferdeköpfe geformt sind, so dass man sie „Pferdekopf-Szepter“ nennt. Sie wurden in Einzelgräbern von erwachsenen Männern gefunden, die in Gruben unter einem flachen Steinhügel (russisch: „Kurgan“) bestattet worden waren.
In dieser Region begann also jenes Muster, das man in die bäuerlichen Gesellschaften der Jungsteinzeit um Jahrtausende zu früh hineingesehen hat: eine erste Hierarchisierung der Gesellschaft unter männlicher Führung. Da dies ein ganz neues soziales Muster darstellt, ist die Frage zu beantworten, wie es dazu kam. Denn Hierarchisierung mitten in einer grundsätzlich egalitären Gesellschaft durchzusetzen, ist keineswegs einfach. Sie wurde anfangs nicht absichtlich herbeigeführt, sondern ergab sich aus der Notwendigkeit, die wachsenden Probleme zu bewältigen.
In Zeiten der Not hatte ein erfinderischer Mann die richtigen Lösungen gefunden, beispielsweise das Reiten auf den schnellen Pferden, oder wie eine Gruppe berittener Männer organisiert werden muss, um die großen Herden zu überwachen. Es ist nicht wichtig, wie dies im Einzelnen geschah, in jedem Fall besaß dieser „Retter in der Not“ großes Prestige, und die beteiligten Männer gehorchten ihm freiwillig. Das wäre prinzipiell nicht problematisch gewesen, weil in matriarchalen Gesellschaften Männer, die Besonderes leisten, durchaus anerkannt werden. Aber es trat eine weitere Entwicklung hinzu, welche die Situation verschärfte. Die wachsenden Herden verlangten immer größere Weideflächen. Die neue Beweglichkeit zu Pferd erlaubte es, erheblich weitere Distanzen für gutes Grasland zurückzulegen. Daraus folgte jedoch eine erste Phase von Konflikten: Weil nun immer mehr Volksstämme zur berittenen Weidewirtschaft übergingen und sich expansiv verhielten, gerieten sie in den jeweils beanspruchten Gebieten aneinander, und Streit um Weideland entstand. Es kam zu Kämpfen, die in diesem Stadium den Charakter von Fehden zwischen Clans und Stämmen hatten. Außerdem setzten Vieh- und Pferdediebstahl ein, vielleicht aus Rache oder anderen Motiven. Solche Überfälle konnten blitzschnell zu Pferd ausgeführt werden, mit ebenso schnellem Rückzug, aber sie hatten dieselben Gegenreaktionen zur Folge. Bei diesem Fehdewesen wuchs das Ansehen der siegreichen Anführer beträchtlich. Wenn sich die Situation durch neue günstige Klimabedingungen entschärft hätte, wären die Fehden und die Führerschaft – wie üblich in matriarchalen Gesellschaften – nur kurz gewesen. Aber der zunehmende Schwund guten Weidelandes blieb und wurde zu einem Dauerproblem, was jetzt zu einem ständigen Fehdewesen führte. Damit wurden die Anführer auf Dauer benötigt, und ihr Status begann sich zu verfestigen: Die Gestalt des „charismatischen Führers“ entstand. Es unterhöhlte gleichzeitig die matriarcha-le Sippenordnung. Denn um sich siegend durchzusetzen, bildeten diese Vorkämpfer und ihr Gefolge eigene Gruppen und Allianzen jenseits der Sippenzusammenhänge und auch jenseits der Stammesgrenzen. Auf diese Weise wurden Hirten zu Hirtenkriegern, und die Gebiete in ihrer Reichweite versanken in dauerndem Unfrieden. […]
Nun verhält es sich so, dass dauernder Unfrieden die Angst um die eigene Sicherheit beträchtlich erhöht. Das war wohl der Hintergrund, weshalb die gesamte Gemeinschaft die siegreichen Anführer schließlich als Häuptlinge anerkannte und ihnen für ihre Verdienste freiwillig eine gewisse Macht zugestand. Das Häuptlingswesen verstieß gegen die alte, egalitäre Lebensweise, doch da diese „charismatischen Führer“ inzwischen ein bewaffnetes Gefolge um sich geschart hatten, konnten sie gewisse Regeln der traditionellen, inneren Ordnung außer Kraft setzen. Das bewaffnete Gefolge stellte einen ersten „Erzwingungsstab“ dar, das definitive, notwendige Kriterium für Herrschaft, die jetzt tendenziell begann. Der Erzwingungsstab wurde nun dafür eingesetzt, Vieh, das vorher ein gemeinschaftliches Gut gewesen war, Stück für Stück in Privateigentum umzuwandeln. Der Häuptling wog seine Verdienste in Besitz an Vieh auf, ohne dass die Gemeinschaft etwas dagegen tun konnte oder wollte. Anders als Land oder Feldfrüchte kann man Vieh nach Stückzahl bemessen und – wenn ein Häuptling auch Geschick als Züchter besaß – beliebig vermehren. Auf diese Weise besaß er bald einen großen Teil der Herde, den er sich als bewegliche Habe angeeignet hatte. Um die Gemeinschaft zu beschwichtigen, schenkte er bei Festen etliche Tiere für das gemeinsame Festmahl her: So entstanden die „Verdienstfeste“ der wohlhabenden Häuptlinge, die ihnen obendrein Ehre einbrachten.
Da die Ökonomie einseitig auf Viehwirtschaft beruhte, bedeutete Privatbesitz an Vieh eine erhebliche Verschiebung von Macht zu Gunsten des Häuptlings. Damit konnte er sein Gefolge vergrößern und das Bündnis zwischen ihm als Anführer und seinen Waffenbrüdern durch Geschenke an Vieh festigen. Dieses Verhältnis wurde durch Eide besiegelt, womit erstmals die Ungleichheit auch zwischen Männern legalisiert wurde, denn es waren nicht alle Männer in die Waffenbrüderschaft einbezogen. Dieser Vorgang zeigt, dass es nicht der Privatbesitz war, der die Entstehung von Herrschaft auslöste – denn es wäre zu erklären, wie es bei einer gemeinschaftlichen Ökonomie zu Privatbesitz hätte kommen können! Es verhält sich umgekehrt:
Erste Herrschaftstendenzen, aus bewaffneten Dauerkonflikten entstanden, führten zu Erzwingungsstäben und zu Privateigentum, das dann wiederum zur Festigung von Herrschaft benutzt wurde.
Der „charismatische Führer“ war nicht nur für die jederzeit aufflammenden Kämpfe wichtig, sondern auch für die ständig wechselnden Allianzen, die Sicherheit versprachen. Deshalb wurde jede neue Allianz mit einem Fest gefeiert, wobei die neu verbündeten Häuptlinge wetteifernd ihren Reichtum zur Schau stellten – was ihre jeweilige Gemeinschaft vermutlich mit Stolz erfüllte. Schließlich bekräftigten sie ihren Status durch den Austausch von kostbaren Geschenken, die Prestige-Gütern waren, wie Feuersteindolche, Armreifen aus wertvollen Steinen, Muschelschmuck, Ketten aus Tierzähnen, in der Kupfersteinzeit dann auch Kupfer und Gold – dies alles fanden Archäologen in den Kurgan-Gräbern von hervorgehobenen Männern. Besonders Kupfer galt als „exotisch“ und wurde besonders hoch bewertet, denn es stammte in jener Zeit noch nicht aus Eigenproduktion, sondern aus den osteuropäischen Zentren der Kupferverarbeitung
Solche Luxusgüter als Statussymbole stachelten wohl den individuellen Ehrgeiz an, und so wuchs das Interesse sie zu erwerben. Eine neue Besitzgier regte sich, und die Häuptlinge begannen die West-Ost-Transportwege mittels Waffengewalt zu kontrollieren, um das begehrte Kupfer zu monopolisieren. Auf diese Weise entstand das, was bei uns „Handel“ heißt, ein Begriff, der eng mit „Händel* im Sinne von Streit zusammenhängt. Handel trat hier gleich zu Anfang als Fernhandel für individuelle Interessen auf. Damit reichte die Macht der Häuptlinge bald weit über die Lokalkulturen westlich des Ural hinaus. Das wird archäologisch greifbar durch die Verbreitung der Kurgan-Bestattungssitten und der typischen Pferdekopf-Keulen im Stil von Chwa-lynsk. […]
Die Übereinstimmung solcher Funde an Orten, die Tausende von Kilometern voneinander entfernt sind, zeigt eine außerordentliche Mobilität der Hirtenkrieger vom Ural und die weitreichenden Kontakte ihrer Häuptlinge, seien diese nun friedlich oder unfriedlich. Ab 4.500 beherrschten sie das gesamte osteuropäische Steppengebiet vom Ural bis zum Kaukasus und der Ukraine.
Was geschah dabei mit den vorhergehenden neolithischen Kulturen matriarchaler Prägung, die in demselben riesigen Gebiet lebten? Sie wurden „überlagert“ – wie es bei Archäologen ebenso lapidar wie verharmlosend heißt. Genauer gesagt entstand jetzt eine zweite Phase von Konflikten, die anders waren als die Fehden der Clans und Stämme untereinander. Als ein Beispiel von vielen, denen es genauso erging, sei hier die Dnjepr-Donez-Kultur genannt, die von der Kultur von Sredny Stog sozusagen „überlagert“ wurde (4.400-3.400). Die Orte der Sredny Stog-Kultur befanden sich in demselben Gebiet wie die der älteren Dnjepr-Donez-Kultur, nämlich am Unterlauf von Dnjepr und Dnjestr. Hier entdeckte man ebenfalls Kurgan-Gräber als Einzelbestattungen von Männern, verbunden mit Pferde- und Hundeopfern, und als Grabbeigaben Steinäxte und Pferdekopf-Keulen, lange Feuersteindolche, außerdem Tausende von Muschelperlen und kleine Kupfer- und Goldartefakte. Diese Kurgan-Bestattungen fanden in den Friedhöfen der Vorgängerkultur statt, wo sie die Sitte der Gemeinschaftsgräber verdrängten. Die Neuankömmlinge waren ein anderes Volk als die Alteingesessenen, was ihre Schädel- und Knochen-form zeigt, die von jener der Dnjepr-Donez-Leute abweicht; sie waren größer und schlanker und hatten Ähnlichkeit mit den Leuten der Chwalynsk-Kultur. Hinzu kommt, dass in den Siedlungen die Schicht mit der grauen, primitiven Keramik von Sredny Stog über der Schicht mit kunstvoller, bemalter Keramik aus der vorherigen Dnjepr-Donez-Kultur lag. […]
Solche einschneidenden Veränderungen sind von den Einheimischen sicher nicht freiwillig angenommen worden, und die sogenannte „Überlagerung“ ging nicht friedlich vonstatten. Die Eindringlinge kamen in losen Gruppen von berittenen, kampfgewohnten Hirtenkriegern – für die Alteingesessenen eine neue, furchteinflößende Erscheinung. Sie sind vor ihnen vermutlich zur benachbarten, matriarchalen Tripolje-Kultur in der Ukraine geflohen. Die zweite Phase von Konflikten ist also gekennzeichnet vom Zusammenprall der patriarchalen Kriegergruppen mit anderen, matriarchal geprägten Kulturen in der Steppe, was mit gewaltsamer Landnahme und Vertreibung endete. […] Aber das neue Muster von Landnahme und Vertreibung der Menschen älterer Kulturen setzte sich fort und griff weiträumig um sich.
Die große und großartige Tripolje-Kultur in der Ukraine wurde von dieser ersten Expansion aus der Steppe verschont, weil sie sich zu schützen wusste. Durch ihre letzte Ausdehnung bis zum Dnjepr (4.700-4.500) kam sie in konfliktreichen Kontakt mit den Hirtenkriegern, was durch Funde von Pfeilspitzen und Schleudersteinen bei den Siedlungen in der Grenzzone belegt ist. Als Folge davon bauten die Bauern an der Grenze ihre Siedlungen auf steil abfallenden Anhöhen und befestigten sie. Diese Verteidigung genügte, dass die patriarchalen Kriegergruppen die die Tripolje-Kultur zunächst vermieden und sie südlich umgingen, entlang der Schwarzmeer-Küste in Richtung Donau. Doch bald darauf bekam auch die Tripolje-Kultur die Zerstörung anderer matriarchaler Kulturen zu spüren, die nicht lange auf sich warten ließ, denn eine noch größere Zahl von Flüchtlingen strömte in sie ein. In nur einem Jahrhundert nahm ihre Siedlungsdichte enorm zu, die Zahl der Orte steigerte sich fast ums Zehnfache von 35 auf 340. […] Die Häuser schlossen sich in konzentrischen Kreisen zusammen, mit den größten außen, die eine Art Schutzring bildeten. Nach innen waren sie in Clan-Segmenten gruppiert, denn trotz der äußeren Bedrohung führte man die egalitäre politische Selbstverwaltung fort, die auf Clanräten beruhte. […]
Wer waren diese Völker um den westlichen Ural, die sich auf neue Art und Weise als Hirtenkrieger organisierten und weit in die Steppen vordrangen? Hier hat die Sprachwissenschaft für Klarheit gesorgt, welche die Leute von Samara, Chwalynsk und Sredny Stog als frühe Indoeuropäer identifizierte. Sie sprachen im Zeitraum von 4.500-2.500 das frühe Indoeuropäisch. Man erschloss es aus früh-indoeuropäischen Wörtern, welche die Ökologie der Steppe und die Viehzucht-Ökonomie dieser Völker bezeichnen. Mit den weiträumigen Raubzügen dieser Hirtenkrieger dehnte sich auch die früh-indoeuropäische Sprache Immer weiter aus.“
– Heide Göttner Abendroth: Das Matriarchat – Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats. Band III: Westasien und Europa, 2019, S. 227-235
[5] Sekundärpatriarchalisierung: Erste Patriarchalisierungswellen aus den Steppen
„Die zunehmende Austrocknung der eurasischen Steppen ab dem 6. Jt. hatten wir beschrieben und die daraus folgenden Konsequenzen gezeigt. Ab Mitte des 5. Jt., noch in der Jungsteinzeit, verbreiteten die aggressiven Reiterkrieger aus dem Wolgagebiet kommend ihre Lebensweise im gesamten Steppenraum. Einige gründeten am Unterlauf von Dnjepr und Dnjestr eine erste Eroberungskultur („frühes Jamnaja“ 4.400-3.400). […]
Während die Cucuteni-Tripolje-Kultur in der Ukraine und am östlichen Karpaten-Rand sich gegen die Eindringlinge abzuschirmen verstand und noch 800 Jahre in Koexistenz neben ihnen lebte, waren die Ackerbaudörfer von Karanowo an der Donau den Angreifern schutzlos ausgeliefert. Obwohl die Indoeuropäer zuerst nur in kleinen Gruppen berittener Krieger kamen, flohen die Karanowo-Leute vor ihrer brutalen Gewalt westwärts. Die reiche Varna-Kultur an der Schwarzmeerküste wurde völlig zerstört und durch die indoeuropäische Kultur von Cernawodă ersetzt.
Nun verschwanden die im freien Land gelegenen Wohnorte mit den Langhäusern der matriarchalen Sippen. Sie wurden durch strategisch geschützte, befestigte Höhensiedlungen auf steilen Hängen und Felsvorsprüngen am Flussufer ersetzt, die nur aus ein paar kleinen Häusern auf schmalem Areal bestanden: Es waren die ersten militärischen Burgen, in denen sich die Angreifer verschanzen konnten. […] Dennoch löste die Zerstörung der Kulturen von Varna, Karanowo und Vinca und die Flucht ihrer Bewohnerinnen und Bewohner große Unruhe und eine Kettenreaktion von Völkerverschiebungen aus.
Am Ende des 5. Jts. war die Vinça-Kultur mit ihren Tempeln, Göttinnenfiguren und der kunstvollen Keramik in ihrer alten Heimat erloschen, ebenso existierte auch die Lengyel-Kultur in Ungarn nicht mehr, sondern hatte sich nach Norden verlagert. Das spiegelt insgesamt eine soziale Katastrophe von einem solchen Ausmaß, wie es bis dahin in Europa unbekannt war.
An die Stelle der vorigen Hochkulturen trat nun eine Gesellschaft patriarchaler Viehzüchter, die Rinderherden und Pferde hielt und kaum Feldbau kannte. Die Keramik war grob und grau und blieb primitiv, die Werkzeuge aus Geweih und Knochen stimmten mit denen in den Steppengebieten überein. Es wurden Kurgane als Hügelgräber nur für männliche Tote errichtet, die Kriegerfürsten, die darin mit ihren Waffen bestattet waren. Wenn eine Frau mitbestattet wurde, dann handelte es sich um die geopferte Witwe ihres Herrn, die fast ohne Beigaben neben ihn gebettet wurde. Auch Pferdeopfer fand man in den Gräbern, und als Machtsymbol tauchte wieder das geschnitzte Pferdekopfszepter auf, von denen man gleiche Stücke an der Wolga und im Gebiet am Nordkaukasus gefunden hatte.“ Das Patriarchat aus der Steppe hatte sich in Europa festgesetzt!
Die zweite indoeuropäische Eroberungswelle fällt in die Mitte des 4. Jt. (ab 3.500). Nach einer milderen Phase setzte erneut eine starke Austrocknung der Steppen ein und ließ aus den Menschen der indoeuropäischen Hirtenkrieger-Kulturen mobile Halbnomaden mit Wagen werden. Sie erweiterten das Areal ihrer Weidewirtschaft erheblich, und die Raubüberfälle wurde epidemisch. […]“
– Heide Göttner Abendroth: Das Matriarchat – Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats. Band III: Westasien und Europa, 2019, S. 319-322
[6] Prähistoriker Prof. Hermann Parzinger über die Entstehung von Zivilisation
„Je mehr Menschen zusammenleben, desto eher braucht eine Gesellschaft Führungspersönlichkeiten, die Entscheidungen treffen. Es bilden sich Eliten.“
– Prof. Hermann Parzinger, vgl. GEOkompakt: Die Geburt der Zivilisation. Der Aufbruch des Menschen in die Moderne, 2013, S. 26
Prof. Hermann Parzinger auf die Frage, was Hochkultur auszeichnet:
„In erster Linie, dass sich feste Institutionen gebildet haben, politische wie auch religiöse. Nur bestimmte Personen gehören dabei zum inneren Zirkel, sogenannte Eliten, und sie gebieten […] über zahllose Gefolgsleute. Politische Herrscher legen steuern fest, sie kontrollieren den Zugang zu Rohstoffen wie Metall oder zu Handelsgütern wie Textilien oder Schmuck. Auch Priester nehmen oft Führungspositionen ein, sie regeln den kultisch-religiösen Bereich in Tempeln […].“
– Prof. Hermann Parzinger, vgl. GEOkompakt: Die Geburt der Zivilisation. Der Aufbruch des Menschen in die Moderne, 2013, S. 26
[7] Zur matriarchalen Städte-Kultur vgl. Cucenti-Tripolje-Kultur und Çatalhöyük z.B. in Rainer Mausfeld: Hybris und Nemesis. Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt – Einsichten aus 5000 Jahren, 2023, S. 107-110
[8] Sekundärpatriarchalisierung: Zur Entstehung von Stadtstadten, Staat und Reich
Gedränge im „Paradies“: Die Bildung von Stadtstaaten
„Im 4. Jt. kam es zu einer erneuten Klimaveränderung, es wurde nochmals kühler und trockener. Das Schwemmland der Ebenen wurde seltener überflutet, die Sümpfe und Lagunen im Süden zogen sich zurück. Dennoch gab es im südlichen Mesopotamien noch reichlich Wasser auch ohne den Bau von großen Kanälen, die Schwemmland-Ebenen blieben fruchtbar. Aber das ausdörrende Klima wirkte sich im persischen Hochland mit den angrenzenden Gebieten in Nordmesopotamien verheerend aus, und an den Rändern der Gebirge entstand eine Zone von Wüsten. Es kam erneut zu einer Völkerverschiebung und zur verstärkten Einwanderung von verschiedenen Volksgruppen von Norden und Osten, nun da der wasserreiche Süden als bewohnbares Gebiet bekannt geworden war, ein „Paradies“ , verglichen mit ihrer Situation. Auch das Volk der Sumerer gehörte zu den Einwanderern, sie besaßen eine so fremde und eigenartige Sprache, dass sie mit keiner damals bekannten Sprache verwandt war. […]
Die Sumerer lernten von der Ubaid-Kultur und übernahmen vieles von ihr, was besonders an der Gleichartigkeit der Häuser mit dem T-förmigen Mittelsaal zu sehen ist. Daraus entwickelten sie ihre frühen Tempelbauten, ergänzt durch eine Kultnische für das Bild der Gottheit. Diese Tempel hatten geringe Größe, sie dienten der Stadtgemeinschaft als Versammlungshaus für Beratung und religiöse Feiern, und wenn ein einziges Gebäude nicht ausreichte, wurde für jedes Stadtviertel ein Tempel errichtet. „Statusunterschiede der Bewohner“ lassen sich daraus nicht ableiten, auch keine „Herrschaftsformen“809 – wie sollten diese so plötzlich entstanden sein? Einfach von selbst kommen Herrschaftsformen und patriarchale Muster nicht herbei, wenn es sie Jahrtausende lang vorher nicht gegeben hat. Vor allem: ganz ohne sie näher zu definieren bleibt völlig unklar, was damit gemeint ist. Die Kulthäuser oder Tempel wurden auf immer höhere Terrassen gesetzt, die stufenförmig übereinander lagen, eine Bauweise, aus der später die Zikkurat, die mesopotamische Stufenpyramide, entstand.810 Erst diese späten Monumentalbauten dienten der Machtdemons-tration, während in der Frühzeit die Terrassen ein praktisches Mittel waren, um die Kulthäuser vor Überschwemmung zu schützen.
Von Ubaid übernahmen die Sumerer auch das Prinzip des Gemeinschaftsvorrates, der im Tempel, dem Gemeinschaftshaus, aufbewahrt wurde. Das war notwendig, denn die Verhältnisse von Klima und Landschaft hatten sich nicht geändert. Stempelsiegel und Zählmarken dienten wie beim Sippenhaushalt dazu, den Eingang der Güter zu registrieren und den Ausgang nach festen Maßen und Gewichten gerecht zu verteilen. In diesem Sinne diente der Tempel als gemeinschaftlicher „großer Haushalt“, wie es früher schon bei den sakralen Gemeinschaftshäusern gewesen war; man nennt dies „Tempelwirtschaft“. Auch dazu ist keineswegs ein Herrscher oder eine Elite erforderlich, welche diese Güter zu ihrem Eigennutz manipulieren würden, ebenso zeigen die Zählmarken – wie schon festgestellt – nicht sofort eine „zentrale Verwaltung“ von oben an.8″ In den frühen sumerischen Städten bestimmten die Sippen selbst über die Verwendung der Gemeinschaftsvorräte, und wenn ein Vorsteher oder eine Gruppe mit der Administration betraut wurde, dann handelten sie als Delegierte der Sippen.
Mit diesem Missverständnis der „Zentralisierung“ wird in der Forschung die sumerische Tempelwirtschaft seit ihrem Beginn belegt, wobei eine strikte Hierarchie stets mitgedacht wird. Dies geht auf eine falsche Definition von „Stadt“ zurück, für die Zentralisierung und Herrschaft charakteristisch sein sollen. Es hat jedoch zeitlich weit früher, nämlich im Neolithikum, schon große Städte gegeben, die ohne diese patriarchalen Muster ausgekommen sind, wie z.B. die Stadt Catal Höyük in Anatolien und die ausgedehnten Städte der Tripolje-Kultur in der Ukraine. Älter und größer als die frühen sumerischen Städte zeigen sie keine Anzeichen von Hierarchie und zentraler Verwaltung. Stattdessen sind sie ausgezeichnete Beispiele für die Komplexität und Effektivität der egalitären Selbstverwaltung der darin wohnenden Clans. Aber die Bedeutung dieser Städte kommt in der Archäologie wegen der falschen Definition von „Stadt“, die stets nur die zentralistisch und patriarchal organisierte Stadt meint, kaum in den Blick. […]
In der folgenden Epoche änderte sich die Situation grundlegend. Im ausgehenden 4. Jt. und beginnenden 3. Jt. entstand mit der Uruk-Zeit die Bronzezeit, es ist die zeit des ersten Erscheinens staatlicher Organisation. Das geschah weder absichtlich noch geplant, sondern hatte mit einem rasanten Ansteigen der Bevölkerung in der Schwemmlandebene zwischen den beiden Strömen zu tun. Zuvor gab es dorn ner spärliche Besiedlung, doch nun steigerte sich die Zahl der Ortschaften um das Zehn-fache. Das heißt, auf die ersten Einwanderer folgten ganze Völkerscharen, die vor der erneuten Klimaverschlechterung mit Verödung ganzer Landstriche in die fruchtbaren Ebenen flohen. Zugleich nahm die Kriegsgefahr durch nomadische Steppen- und wüstenvölker zu, die zwar schon lange in den trockenen Zonen gelebt hatten, aber stets weniger ihr Auskommen fanden und sich rasant militarisierten. Auch vor ihnen flohen die angrenzenden Völker. Sie zogen nach Süden, wo sie die „Fleischtöpfe“ der Städte mit ihrer Klugen Vorratswirtschaft wussten. Sie wurden alle von der ansässigen Kultur aufgenommen, so dass ein Dutzend neuer Städte entstand. Die starke Besiedelung begann dort, wo sich Euphrat und Tigris am nächsten kommen, und griff in der Folgezeit auf den ganzen südlichen Teil des Landes über, das beide Ströme in weitem Bogen umfließen. Auch die schon bestehenden Städte schwollen mächtig an, allein die Stadt Uruk vergrößerte sich auf 250 ha. Mit dieser Situation entstand ein großes und anhaltendes Problem, nämlich die Versorgung der enorm anwachsenden Menschenmenge zu gewährleisten.
Das führte einerseits zum Ausbau der künstlichen Bewässerungsanlagen, andererseits zu einer sich ständig vergrößernden Verwaltung. Die lokalen Kanäle, welche zuvor die Felder einzelner unabhängiger Sippenhaushalte bewässert hatten, mussten nun durch ein ausgefeiltes Kanalsystem ersetzt werden, welches das nötige Wasser herbeischaffte. Das Kanalsystem wurde in eine vierfache Hierarchie gegliedert: Es gab wenige zentrale Hauptkanäle, die längs durch das gesamte Gebiet führten. Sie ergossen sich in Seitenkanäle, von denen jeder den Distrikt einer Stadt mit Wasser versorgte. Von hier wurden kleinere Kanäle für die Felder abgezweigt, wo sie sich in viele Wasserrinnen aufteilten. Ein solches Bewässerungssystem funktionierte nicht mehr allein durch die Schwere des vom Fluss herabfließenden Wassers, sondern es brauchte Schleusen an den Hauptkanälen, welche die Wassermenge an den Abzweigungen regulierten, ebensolche an den Seitenkanälen, außerdem begrenzende Dämme auf den Feldern, die genau gleiche Quadrate umschlossen und das Wasser festhielten, damit es durch die Rinnen einsickern konnte. Dem entsprach eine Hierarchie in der Wartung des Kanalsystems, wobei den obersten Administratoren die Verantwortung zufiel, die Hauptkanäle zu graben und zu erhalten. Unter ihnen Standen die Administratoren der einzelnen Städte, welche die Seitenkanäle für die verschiedenen Stadtteile und die kleineren Kanäle für die Felder zu pflegen hatten.
Der nächste Schritt war, die landwirtschaftliche Produktion zu erhöhen, um die schnell zunehmende Bevölkerung zu ernähren. Deshalb verwandelte man weite Teile der Ebene in Ackerland, verkleinerte zugleich die Felderflächen und intensivierte den Anbau. Die wachsenden Überschüsse flossen in die Tempelwirtschaft und wurden dort genauestens registriert. Auch ihre Wiederverteilung war genau geregelt. […]
Für die komplizierte Verwaltung der Tempelgüter wurde die Keilschrift weiterentwickelt. Sie war nicht gänzlich neu, sondern ging aus einem sehr alten, einheimischen Zeichensystem hervor, das bis in die Jungsteinzeit zurückreicht. Demnach wurde hier auch nicht die „erste Schrift“ erfunden, sondern sie wurde übernommen und für den neuen Zweck dienstbar gemacht – was zugleich ihre Profanierung darstellte.
In Keilschrift sind auch die […] Tontafeln gehalten: Listen, die in hierarchischer Reihenfolge alle Titel der Verwaltung nach Rängen gegliedert aufführen. Der erste Titel bezeichnet den obersten Administrator, den „König der Stadt“ der aber noch keine Herrschaftsmacht besaß. […]
Dennoch handelt es sich jetzt erstmals um eine stratifizierte Gesellschaft, das heißt, eine hierarchische Gesellschaft aus Schichten und Rängen. Sie war aus dem Bevölkerungsdruck in einer schwierigen ökologischen Umwelt hervorgegangen. Es handelt sich jedoch um eine Hierarchie der Verantwortung, noch nicht der Herrschaft. „Herrschaft“ bedeutet eine Hierarchie der Ausbeutung von oben nach unten, die durch einen bewaffneten Erzwingungsstab gewährleistet wird. […] Mit dieser stratifizierten Gesellschaft und der Hierarchie der Verantwortung begann die Geschichte der sumerischen Stadt-Staaten. Als Staaten verwandelten sie nun das Land, das vorher allgemein zur Verfügung stand, in ihr Territorium, auf das sie Besitzanspruch erhoben. Als lokale Ackerbaustädte trugen sie allerdings noch nicht die ausbeuterischen Merkmale späterer Staaten, die sich ganze Länder anderer Völker aneigneten, sondern sie blieben in dem von ihnen kultivierten, begrenzten Areal. […]
Die Macht der Waffen: Regionalstaaten und das erste Reich
Diese günstige Zeit der „Uruk-Ausdehnung“ ging plötzlich zu Ende, die Entwicklung brach überall fast gleichzeitig ab. Das geschah unfriedlich, denn es gibt für die nördlichen Regionen Mesopotamiens Spuren von Zerstörung, mit massenhaften Funden von Schleuderkugeln, die als Kriegswaffe dienten. Die nördlichen Niederlassungen wurden verlassen.822 Die Ursache waren nomadische Hirtenkrieger, Völker mit semitischer Sprache, die schon lange vorher von der sich zunehmend in Wüste verwandelnden Arabischen Halbinsel in nördliche Richtung gezogen waren, in die Länder der Levante (Palästina, Syrien) und in Nordmesopotamien einsickerten und dort mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung bildeten. Obwohl nicht beritten, beendeten diese frühen Semiten die Ausdehnung Uruks nach Norden und stießen jetzt weit in den Süden des Zweistromlandes vor. Schließlich ließen sie sich am Nordrand des urbanen Gebiets von Sumer als „Akkader“ nieder. Die sumerischen Städte erwehrten sich der Eindringlinge, indem sie Stadtmauern errichteten und sich in einer Liga zusammenschlossen. Ebenso versuchte man, die Fremden durch Assimilation an die eigene Kultur zu integrieren. Auf diese Weise hatten die Akkader ihre nomadische Herkunft bald vergessen und gründeten nun ihre eigenen Städte am Nordrand des sumerischen Städtegebiets. So entstand ein Nebeneinander von Sumerern und Akkadern unter dem Dach derselben Kultur. Die Spannungen blieben jedoch bestehen, nicht nur wegen der großen Verschiedenheit der Sprachen, sondern auch der Verwandtschaftsstrukturen. Denn die Akkader brachten die Patrilinearität mit sich.
Der Verlust des Rohstoff-Handels mit den nördlichen Gebieten und die neuen kriegerischen Verhältnisse bedeuteten für die Sumerer einen tiefsitzenden Schock. Zudem erweiterten die akkadischen Stadtkönige das Territorium um ihre Städte derart aggressiv, dass ihr Stadtstaat Kisch in der ersten Hälfte des 3. Jts. die Hegemonie über die sumerischen Stadtstaaten ausübte. In manchen sumerischen Städten besetzten sie selbst den Thron, in anderen Städten mussten sich die sumerischen Könige ab jetzt dem Kriegshandwerk widmen, das zuvor nicht zu ihren Aufgaben gehört hatte. Es kam zu einer festen Krieger-Kaste, über die der König Befehlsgewalt ausübte, und zu allen weiteren organisatorischen Vorkehrungen, die zum Kriegfüh-ren nötig sind. Diese einschneidende Veränderung erwuchs aus dem Bedürfnis der sumerischen Stadtstaaten nach Unabhängigkeit. Auf diese Weise wandelte sich die Rolle des Königs vom obersten Administrator, welcher der Stadtgottheit unterstand, zu einem kriegführenden König. Wie bei den Akkadern üblich, wurde ihm jetzt das Privileg zugestanden, seinen Königstitel zu vererben, was im 3. Jt. zur Frühdynastischen Zeit führte. Die Könige erhoben nun neue territoriale Ansprüche über ihre Stadtgebiete hinaus, doch dadurch gerieten die Stadtstaaten untereinander in Streit, was in der Frühdynastischen Zeit zu einem gewissen Chaos führte.
Diese Entwicklung wurde gleichzeitig durch ökologische Probleme verschärft. Die Bevölkerung wuchs durch fortwährende Einwanderung aus dem Norden unaufhörlich an, und zugleich nahm das Wasser in den beiden großen Strömen ab. Eine bedrohliche Wasserknappheit war die Folge, was zur Verringerung der landwirtschaftlichen Flächen führte, bei gleichzeitig ansteigender Zahl der Menschen, die hier wohnten. So veränderte sich die Siedlungs- und Wassersituation derart dramatisch, dass die Gebietsansprüche zwischen den Städten, die der Versorgung der eigenen Bevölkerung dienen sollten, nicht mehr durch Schlichtung und Vertrag gelöst werden konnten. Es kam zu Dauerkonflikten. Die ökologische Herausforderung ließ sich | Jedoch nicht mit kriegerischen Mitteln lösen, so versuchte man, das Gedränge mit noch strafferer Organisation zu meistern. Die netzartig übers ganze Land verteilten Kanäle wurden zugunsten von nur wenigen schnurgeraden Hauptkanälen aufgegeben, an denen nun sämtliche Städte lagen. Die selbständigen Dörfer verschwanden, die Mehrheit der Menschen lebte jetzt abhängig in den immer mehr anschwellenden Städten. Der Verdichtungsprozess nahm so stark zu, dass eine enorm aufgeblähte Bürokratie entstand, die das Wasser regelte, die knapper werdenden Lebensmittel kontrollierte und die Einwohner überwachte. Allein Uruk dehnte sich über 550 ha aus und konnte sich damit nicht mehr, wie früher als unabhängige Ackerbaustadt, selbständig erhalten.829 Es entwickelte sich zur zentralen Stadt, welche die umliegenden Siedlungen zwang, sie zu versorgen, und sie damit ausbeutete. Damit entstand das typische Hauptstadt-Syndrom und der erste bürokratische Staat. All diese Probleme zusammen bewirkten grundsätzliche Veränderungen in der Gesellschaft, die zwar ohne vorherige Absicht, aber zunehmend die patriarchalen Muster der Herrschaftsgesellschaft annahm.
In Sumer kam nun, um die permanenten Konflikte zwischen den Städten einzu-dämmen, das Konzept der politischen Einheit des Landes und die Idee vom „König des Landes“ auf – ein weiterer Schritt zur Zentralisierung. Da die einzelnen Stadtstaaten ihr Territorium aber nicht freiwillig an einen solchen selbsternannten Landesherrn abtreten wollten, begann man sich gegenseitig zu erobern. Größere Territorien entstanden durch das erzwungene Zusammenlegen von mehreren Stadtstaaten, es waren Versuche Regionalstaaten zu gründen, die aber ihre Gründer nicht überdauerten.Zuletzt war es Lugal-Zagesi, König von Umma, der sich „König des Landes“ nannte, eine kurzfristige Herrschaft über ganz Sumer ausübte und recht unbescheiden Anspruch auf „alle Fremdländer von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang“ erhob.
Was die Sumerer nur als Idee hervorbrachten, verbunden mit gescheiterten Ver-suchen, vollendete schließlich der semitische König Sargon von Akkad (2292-2236). Er wusste das Kriegführen besser auszuüben als jemand vor ihm, so besiegte er in einer Schlacht Lugal-Zagesi und fügte nun Mesopotamien zu einem gewaltsam geeinten Reich zusammen.82 Er etablierte sich selbst als Zentralregierung und ersetzte die sumerische Sprache durch die semitische als offizielle Landessprache. Damit ist er der erste „Herrscher“, der diesen Namen verdient. […]
Zentralisierung auf die Spitze getrieben: der Weg zum „Weltreich“
Nachdem patriarchale Eroberungsreiche einmal in die Menschheitsgeschichte eingeführt waren und von den Herrschern als der beste Zustand für sie selbst erkannt wurden, verbunden mit der Propaganda, dass damit überhaupt erst „Zivilisation“ begann, die es angeblich vorher nicht gab, hörte das Streben danach nicht mehr auf. Mehr und mehr zeigte damit die patriarchale Herrschaftsgesellschaft, die auf Krieg beruht, ihr hässliches Gesicht.
In Mesopotamien mussten nun stets die Grenzen gegen die sogenannten „Wilden“ außerhalb des Reiches gesichert werden, nämlich gegen die nomadischen Völker aus den Steppen und Wüsten, die das sich ausdehnende akkadische Militärreich ihrerseits als Bedrohung empfanden. Druck erzeugte Gegendruck, und Gewalt führte zu Gegengewalt. So unternahm das Bergvolk der Gutäer am östlichen Rand gefürchtete Raubzüge in das Reich von Akkad, was ihrer Selbstverteidigung und Versorgung zugleich […]
Die Gutäer überrannten es, zerstörten das Regierungszentrum, und der akkadische Militärstaat zerfiel. Daraus ergab sich ein beträchtliches Chaos, bis es den alten Stadtstaaten gelang, ihre dezentralisierte Macht zurückzugewinnen.
Aber da sich Geschichte niemals zurückdrehen lässt, währte dieser Traum von der „guten, alten Zeit“ nicht lange. Die berühmte Elite war auf den Geschmack ge-kommen, was sich mit Waffengewalt alles erreichen lässt, und sie führte nun eine neue Zentralregierung ein. Auf diese Weise entstand im 2. Jt. das Reich von Babylon in Mesopotamien. Die Herrschaftstechnologie wurde weiter ausgebaut und verfeinert, denn darauf kam es jetzt an! So teilte man das Land in Verwaltungsbezirke auf, und damit keine Aufstände mehr möglich wären, richtete man in allen Bezirken Garnisonen ein, die das Volk unter militärischer Aufsicht hielten. Die zuvor rebellische Priesterschaft beschwichtigte man mit riesigen Tempelbauten: Nun entstanden die Zikkurrate, deren Höhe mit entsprechender Anzahl von Terrassen zu turmartiger Größe wuchs – der biblische „Turm zu Babel“, der zum Symbol für menschliche Hybris wurde. Monumentale Architektur und überdimensionale Kunst drückten die Macht der Herrscher aus, und schließlich führten sie die Selbstvergöttlichung wieder ein.
Hinzu trat ein gewaltiger Apparat von Staatsbeamten. […]
Zugleich wurden die Lebensmittel noch stärker rationiert, wobei die Untersten am wenigsten erhielten. Noch tiefer stand die neue Schicht der Kriegsgefangenen, die nun die Masse der unfreien Sklaven ausmachten.88 So hatte die Hierarchisierung schließlich zu einem totalitären Klassenstaat geführt, auch wenn die damaligen Herrscher es nicht so verstanden, sondern sich eher als väterliche Patrone des Landes sahen. Schließlich konnte trotz aller Anstrengungen der Süden des Reiches mit den riesigen Städten sich nicht mehr selbst ernähren und wurde von Getreideimporten aus dem Norden abhängig.
Zugleich blieb dieses komplizierte und anfällige Staatsgebilde nicht von Grenzproblemen mit immer wieder neu einwandernden, semitischen Nomadenstämmen verschont. Man errichtete eine Mauer gegen sie – auch dies ein probates Mittel, das sich geschichtlich fortsetzte. Wie stets nützte die Mauer wenig, und so kam es zur Herrschaft von Amurritern und einer amurritischen Dynastie in Babylon. Ein Herrscher dieser Dynastie war Hammurabi, der Babylon und die Nachbargebiete unter seiner Herrschaft wieder vereinte. Berühmt wurde er durch die Hammurabi-Stele mit Rechtstexten, auf der in Keilschrift Gesetze und strenge Strafen für alle Rechtsfälle verewigt sind.89 Es war nicht der Beginn der Justiz, denn Hammurabi bezieht sich auf Gesetze, die schon vorher gültig waren. Dennoch offenbart sich hier der Charakter von Justiz in Babylon, wo der Herrscher allein die Gesetze erlässt und die Strafen bestimmt (Legislative), zugleich der oberste Richter ist (Judikative) und auch die Exekutive in der Hand hat, die er durch seine Soldaten und Beamten ausüben lässt. Es gab keine Gewaltenteilung, und in diesem Sinne war Justiz strukturelle Gewalt, die Macht und Recht gleichsetzt. Sie hatte weniger mit Gerechtigkeit zu tun als damit, ein weiteres patriarchales Herrschaftsinstrument zu sein.“
– Heide Göttner Abendroth: Das Matriarchat – Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats. Band III: Westasien und Europa, 2019, S. 283-294
[9] Zur Entstehung des Ägyptischen Staates vgl. Rainer Mausfeld: Hybris und Nemesis. Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt – Einsichten aus 5000 Jahren, 2023, S. 123-135
[10] Vom Matriarchat zum Patriarchat – Was hat sich geändert?
„In den ersten Jahrhunderten, teilweise Jahrtausenden und in einigen Gebieten noch heute, sprechen wir nach der gewaltsamen Eroberung der matriarchalen Stammesgebiete von einer patriarchalen Stammeskultur. Es entsteht eine Klassengesellschaft. Der Häuptling, später Fürst, mit seinem Erzwingungsstab, den Kriegern an der Spitze und der allergrößte Teil der Menschen sind Sklaven. In dieser Zeit und vornehmlich an den Rändern patriarchal dominierter Großräume kommt es auch zu mehr oder weniger ausgeprägten gemischten Kulturen, in denen sich kleinere Reste matriarchaler Strukturen erhalten. Um jedoch die gravierendsten Veränderungen durch das Patriarchat deutlicher nachvollziehen zu können, schauen wir hier gleich auf die nächste Stufe patriarchaler Geschichte: die Entstehung von Staaten und Reichen. (Hier erst, nachdem die Erinnerung an eine Zivilisation ohne Krieg nur noch in Sagen und Märchen nachhallt, beginnt die patriarchale Geschichtsschreibung!!!) Aus den Fürsten werden Könige, später Gottkönige mit einer neuen priesterlichen Verwaltungsklasse.
Die erste Bildung von Staaten (nicht zu verwechseln mit der hochentwickelten frühantiken Städtekultur der matriarchalen Zivilisation, die es davor gab) findet im westeurasischen Raum in Sumer und Ägypten statt. Doch das römische Imperium, welches das Jahrtausend um die Zeitenwende umfasste, zeigt die Unterschiede zur vorangegangenen Zivilisation am deutlichsten auf:
- Wo früher das Individuum in der sozialen Sicherheit der blutsverwandten Sippe gleichermaßen Halt, wie auch persönliche Freiheit fand, existiert nun die patriarchale Paarungsfamilie: früher mehrere, später eine Frau gehört einem Mann. Auch die Kinder (früher der Großfamilie, heute der Kleinfamilie), die Sklaven, das Vieh, das Land, das Haus und andere Besitztümer gehören (als res familia) dem Ehemann, Vater und Familienbesitzer. Als „res publica“ wird dagegen bezeichnet, was nicht einem einzigen sondern der privilegierten Klasse der Famlienbesitzer gemeinsam gehört! Der Vater hat in allen Dingen das letzte Wort, sogar über Tod und Leben. Die Frau wurde der sozialen Geborgenheit ihrer Sippe entrissen (zu deren Kultur auch das „Bemuttern der Mütter“ gehörte) und muss nun isoliert als Fremde dem Haushalt ihres Gatten vorstehen.
- Wo früher das „Eigentum“ an Lebensgrundlagen unbekannt war, (was wir mit unseren heutigen Begriffen als Gemeinschaftseigentum, Almende und Gemeinschaftsökonomie bezeichnen können), wo man früher gemeinsam für das Auskommen der ganzen Sippe sorgte, ist nun jeder auf sich gestellt und muss für das eigene Überleben sorgen. Familienvater kann nur der sein, der über genug Kapital verfügt, seine Familie auch ernähren zu können. Dazu braucht er Privateigentum (privare heißt auf Latein: rauben).
- Wo früher der Stamm als freiwilliger Zusammenschluss der Sippen existierte, der den einzelnen Gruppen bei ihren Lebensinteressen diente, steht nun der Staat als eine über allem stehende zentrale Kontrollinstanz, die das Zusammenleben der Menschen regelt. Egal, ob an seiner Spitze ein König, Hohepriester, Tyrann, Imperator oder eine, untereinander „Demokratie“ praktizierende, Oligarchenclique steht; wer nicht zum innersten Kreis der Macht gehört, hat künftig zu gehorchen.
- Wo früher eine weitestgehende Egalität herrschte, teilt sich die Gesellschaft nun in Herrscher und Sklaven. Das Prinzip der Herrschaft von Menschen über Menschen bringt eine sich immer mehr differenzierende Klassenpyramide hervor. Aus den Kriegern der ersten Erzwingungsstäbe geht die Aristokratie um die Herrscher hervor. Mittelschichten aus Beamten und Händlern entstehen und müssen dauerhaft in Angst leben, ihre bescheidenen Privilegien zu verlieren und abzusteigen. Die Sklaven sind in der Antike auch körperlich Eigentum eines anderen, werden im Mittelalter zu Leibeigenen und in unseren Tagen zu Lohnabhängigen (Sklaven, die sich nun auch um ihren optimalen Verkauf und ihre Ernährung selbst zu kümmern haben).
- Wo früher Frieden über Jahrtausende der Normalzustand war, ist es nun der Krieg. Raub und Krieg bilden die Basis jeder patriarchalen Politik und Wirtschaft, unabhängig davon, wie die offizielle Ideologie des jeweiligen Systems sie umschreibt.
- Wo früher die Natur als Mitwelt und auf Augenhöhe gesehen wurde, ist sie nun zu einem seelenlosen Rohstofflager geworden, das beliebig ausgebeutet werden darf.
- Wo früher das Leben selbst als heilig galt, mütterliches Versorgen und Verschenken verehrt wurden, die Sexualität und der Schoß der Frauen als heilig galt, wird heute alles als Ware oder Dienstleistung zu Produkten gemacht, deren Bestimmung darin liegt, mit ihnen Geld verdienen zu können. Die Einheit in Vielfalt der matriarchalen Zivilisation wich erst der psychologisch verkleinernden Vielgötterei des frühen Patriarchates, dann den monotheistischen Theologien zur Rechtfertigung von Herrschaft und heute der immer banaler werdenden Anbetung des global einzigen Gottes: Mammon!
Rom bildet den ersten Höhepunkt des Patriarchates. Rom steht für die Verfeinerung seiner Herrschaftstechniken. Statt Keule, Schwert und eiserne Fußfesseln, werden nun unsichtbarere Ketten eingesetzt: Das Geld und Verrechtlichung des Besitzes tragen auch dazu bei, dass die äußerlichen Machtverhältnisse zunehmend verinnerlicht werden. Im Laufe der Zeit halten immer mehr Menschen diese Form der auf dem Kopf stehenden Zivilisation für normal, schon immer so gewesen oder unabänderlich.“
– Gandalf Lipinski: Jenseits des Patriarchats für eine Gesellschaft in Balance. Balance-Broschüre, 2022, S.16-17