#07 – Matriarchat (feat. Gandalf Lipinski)

In dieser Folge prüfen ASHTY & MARIUS mit Gandalf Lipinski, was uns die Wiege der Menschheit über ganz andere (herrschaftsfreie!) Zivilisationsformen sagen kann.

Quellen

[1] Ausführliche Erklärung zu ‚Polaritäten‘ und ‚Gesellschaft in Balance‘ vgl. Vortrag von Gandalf Lipinski: Basisdemokratie zwischen Schwarmintelligenz und kollektiver Leitungskompetenz, ab Minute 25:55, online, https://youtu.be/_Uzmjz91oHY?feature=shared&t=1555 

[2] Begriffsdefinition ‚Matriarchat‘

„Der Begriff „Matriarchat“ war in seiner Bedeutung bis heute ungenau und verschwommen, denn er wurde schlecht oder gar nicht definiert. Darum blieb er der am häufigsten missverstandene und falsch interpretierte Begriff. Entgegen dem Anschein ist er nicht die Parallele zum Begriff „Patriarchat“, was „Väterherrschaft“ bedeutet. Ihn deshalb mit „Mütterherrschaft“ zu übersetzen, ist weder sprachlich noch sachlich richtig. Denn das griechische Wort archē (ἀρχή) heißt sowohl „Herrschaft“ als auch „Anfang, Beginn, Ursprung“.

Diese Bedeutung des Wortes arche als „Anfang, Beginn“ geht aus solchen Begriffsbildungen wie „Archetyp“, „Arche Noah“ oder „Archäologie“ hervor. Denn man würde „Archetyp“ kaum als „Herrschaftstyp“ oder „Archäologie“ als „Lehre von der Herrschaft“ übersetzen wollen, ebenso wenig bedeutet „Arche Noah“ etwa „Noahs Herrschaft“. Sondern Archäologie bezeichnet klar die „Lehre von den Anfängen (der Kultur)“, Archetyp meint einen „uranfänglichen Typus“, und die Arche Noah bezieht sich gemäß der Bibel auf den neuen Anfang der Menschheit nach der Sintflut.

Wir übersetzen deshalb das Wort „Matriarchat“ korrekt mit „Am Anfang die Mütter“. Erst später, als im Rahmen patriarchaler Ideologie behauptet wurde, dass es Herrschaft seit dem Beginn der menschlichen Geschichte gegeben hätte, nahm das Wort arche auch die zweite Bedeutung von „Herrschaft“ an. Deshalb übersetzt man „Patriarchat“ korrekt mit „Herrschaft der Väter“ bzw. „Männerherrschaft“ Matriarchale Gesellschaften sind hingegen nicht das Spiegelbild patriarchaler Gesellschaften, sondern eine Gesellschaftsform mit völlig anderen Mustern und sehr langer Dauer in der frühen Kulturgeschichte. Deshalb ist es falsch, „Matriarchat“ mit „Herrschaft der Mütter“ bzw. „Frauenherrschaft“ zu übersetzen. Die Übersetzung „Am Anfang die Mütter“ trifft hingegen die Sache.“

Heide Göttner Abendroth: Das Matriarchat – Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats. Band III: Westasien und Europa, 2019, S. 11

[3] Inhaltsdefinition ‚Matriarchat‘

„In äußerster, begrifflicher Kürze […] besagt [die] strukturelle Definition, dass die matriarchale Gesellschaftsform 

  • ökonomisch eine Ausgleichsgesellschaft ist, in der Frauen die lebensnotwendigen Güter wie Land, Häuser und Nahrungsmittel verwalten und durch Verteilung ständig für ökonomischen Ausgleich sorgen. Diese Ökonomie ist nicht akkumulie-rend, sondern verteilend im Sinne einer „Ökonomie des Schenkens“ 
  • sozial auf einer matrilinearen Verwandtschaftsgesellschaft beruht, deren Hauptzüge ein Clan- oder Sippenwesen mit Matrilinearität (Verwandtschaft in der Mutterlinie) und mit Matrilokalität (Wohnsitz bei der Mutter) sind. Gleichzeitig gilt die Gleichwertigkeit der Geschlechter (Gender-Egalität).
  • politisch eine Konsensgesellschaft darstellt, mit den Clanhäusern als realpolitischer Basis und einem Delegiertenwesen der Männer als Sprecher ihrer Sippen bei größeren, auswärtigen Versammlungen; diese haben darin ihren eigenen Aktionsbeeich und ihre Würden. In den meisten Fällen bringt dies nicht nur eine gender-egalitäre, sondern eine insgesamt egalitäre Gesellschaft hervor.
  • kulturell auf einer sakralen Kultur beruht, die komplexe, religiöse und weltanschauliche Systeme besitzt, wobei eine grundlegende Vorstellung vom Leben auf der Erde und vom Kosmos der Wiedergeburtsglaube ist. Es gibt keine abgehobenen, abstrakten männlichen Götter, sondern das Weiblich-Göttliche in vielen Erscheinungen prägt das Weltbild; es wird als immanent in der Welt wirkend verstanden

Kurz gefasst sind bei dieser Definition die notwendigen, unverzichtbaren Bestandteile, um überhaupt von einer matriarchalen Gesellschaft sprechen zu können: die Matrilinearität und die ökonomische Verteilungsmacht der Frauen; gleichzeitig die Egalität ihrer Mitglieder, die sich im Konsensprinzip bei der Entscheidungsfindung, bei der niemand ausgeschlossen wird, ausdrückt.“

Heide Göttner Abendroth: Das Matriarchat – Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats. Band III: Westasien und Europa, 2019, S. 15f. 

[4] Matriarchale Sozialordnung

„Auf der sozialen Ebene beruhen matriarchale Gesellschaften auf dem Clan. Matriarchale Menschen leben in großen Sippen zusammen, die nach dem Prinzip der Matrilinearität, der Verwandtschaft in der Mutterlinie, aufgebaut sind. Der Clanname, alle sozialen Würden und politischen Titel werden in der mütterlichen Linie vererbt.

Ein solcher Matri-Clan besteht aus mindestens drei Generationen von Frauen: die Clanmutter und ihre Schwestern, deren Töchter und Enkelinnen und den direkt verwandten Männern: die Brüder der Clanmutter, die Söhne und Enkel.

Ein Matri-Clan lebt im großen Clanhaus zusammen, das zehn bis 100 Personen je nach Größe und architektonischem Stil umfassen kann. Die Frauen leben permanent hier, denn Töchter und Enkelinnen verlassen niemals das mütterliche Clanhaus. Man nennt dies Matrilokalität. Ihre Gatten oder Geliebten, die in ihren Mutterhäusern wohnen, kommen in sogenannter Besuchsehe nur über Nacht zu ihnen.

Der Clan ist eine autarke Wirtschaftseinheit. Um zu erreichen, dass diese autarken Gruppen ein gesellschaftliches Gefüge mit den anderen Clans des Dorfes oder der Stadt bilden, wurden komplexe Heiratsregeln entwickelt, z. B. die Regel der wechselseitigen Heirat zwischen je zwei Clans. Dazu gehören noch Regeln der freien Wahl mit den anderen Clans, mit der beabsichtigten Wirkung, dass alle Mitglieder des Dorfes oder der Stadt durch Geburt oder Heirat näher oder ferner miteinander verwandt sind. Diese Verwandtschaft stellt ein gegenseitiges Hilfssystem nach festen Regeln dar. Auf diese Weise wird eine nicht-hierarchisch organisierte, horizontale und egalitäre Gesellschaft erzeugt, die sich als erweiterter Clan mit allen wechselseitigen Hilfsverpflichtungen versteht.

Ich definiere matriarchale Gesellschaften auf der sozialen Ebene deshalb als horizontale matrilineare Verwandtschaftsgesellschaften.

Patriarchale Gesellschaften bestehen demgegenüber aus untereinander Fremden, die Herrschafts- und Interessengruppen bilden, die als Ego-Gruppen gegeneinander antreten und sich unaufhörlich bekämpfen. Das gesellschaftliche Gleichgewicht bleibt dabei immer prekär.“

Heide Göttner-Abendroth: Der Weg zu einer egalitären Gesellschaft. Prinzipien und Praxis der Matriarchatspolitik, 2008, S. 8f.

[5] Matriarchale Politik

„Auf der politischen Ebene sind die Prozesse der Entscheidungsfindung ebenfalls entlang den Verwandtschaftslinien organisiert. Basis jeder Entscheidungsfindung sind die einzelnen Clanhäuser. Angelegenheiten, die das Clanhaus betreffen, werden von den Frauen und Männern in einem Prozess der Konsensfindung, d.h. durch Einstimmigkeit, entschieden.

Dasselbe gilt für Entscheidungen, die das ganze Dorf betreffen: Nach dem Rat im Clanhaus treffen sich Delegierte der einzelnen Clanhäuser im Dorfrat, in manchen Gesellschaften die Clanmütter selbst, in anderen die gewählten Mutterbrüder, der ihren Clan nach außen vertreten. Im Dorfrat treffen sich keine Entscheidungsträger, sondern nur Delegierte, die miteinander austauschen, was die einzelnen Clanhäuser beschlossen haben. Sie halten das Kommunikationssystem im Dorf aufrecht und gehen so lange zwischen Clanrat und Dorfrat hin und her, bis alle Clanhäuser auf Dorfebene den Konsens gefunden haben.

Dasselbe gilt wiederum auf regionaler Ebene: Hier werden die Entscheidungen der Dörfer und Städte auf regionaler Ebene ebenfalls von Delegierten, in der Regel den angesehenen Männern, durch Information koordiniert. Auch hier gehen die Delegierten zwischen Dorfrat und regionalem Rat solange hin und her, bis die Region durch alle Clanhäuser aller Dörfer ihre Entscheidung im Konsens gefunden hat.

Es ist klar, dass sich in einer solchen Gesellschaft Hierarchien und Klassen nicht bilden können. Ein Machtgefälle zwischen den Geschlechtern oder zwischen den Generationen kann ebenfalls nicht entstehen. Minderheiten werden nicht durch Mehrheitsentscheidungen ausgegrenzt und stimmlos gemacht, denn sämtliche politische Entscheidungen fallen in den Clanhäusern, wo die Menschen leben, d.h. sie fallen „basisdemokratisch“. Auf der politischen Ebene definiere ich Matriarchate daher als egalitäre Konsensgesellschaften.

Patriarchate sind demgegenüber grundsätzlich Herrschaftsgesellschaften, sogar noch in ihrer Spielart als formale Demokratien, welche die Minderheiten stimmlos machen. Außerdem sind sie von zahlreichen Institutionen und Hierarchien durchsetzt, die keineswegs demokratisch funktionieren.“

Heide Göttner-Abendroth: Der Weg zu einer egalitären Gesellschaft. Prinzipien und Praxis der Matriarchatspolitik, 2008, S. 9f.

[6] Matriarchale Ökonomie

„Auf der ökonomischen Ebene sind Matriarchate meistens, aber nicht ausschließlich Ackerbaugesellschaften. Es wird Subsistenzwirtschaftmit lokaler und regionaler Autarkie praktiziert. Land und Häuser sind Eigentum des Clans im Sinne von Nutzungsrecht; Privatbesitz und territoriale Ansprüche sind unbekannt.

Die Güter sind in lebhaftem Austausch, der den Verwandtschaftslinien und Heiratsregeln folgt. Dieses System des Austauschs basiert auf einer Ökonomie des Schenkens, und es verhindert, dass Güter bei einem Clan oder bei einer Person akkumuliert werden können.

Das Ideal ist Verteilung und nicht Akkumulation. Vorteile und Nachteile beim Erwerb von Gütern werden durch soziale Regeln ausgeglichen, z. B. ist es üblich, dass ein wohlhabender Clan bei den zahlreichen gemeinschaftlichen Festen das ganze Dorf einlädt, wobei er seine Güter als Geschenke an alle gibt. Das vermindert den Wohlstand dieses Clans, doch das Schenken bei den Festivitäten geht reihum zu jenen, die das meiste Glück bei Ernten oder beim Handel hatten. Dafür haben die schenkenden Clans „Ehre“, d.h. soziales Ansehen, gewonnen. Auf diese Weise werden ökonomische Unterschiede immer wieder nivelliert.

Auf der ökonomischen Ebene sind Matriarchate daher gekennzeichnet von perfekter Gegenseitigkeit, ich definiere sie daher als Ausgleichsgesellschaften auf der Basis einer Ökonomie des Schenkens.

Im Gegensatz dazu sind Patriarchate auf allen ihren geschichtlichen Stufen immer Akkumulationsgesellschaften, bei denen die Güter aller Menschen in den Händen von wenigen landen.“

Heide Göttner-Abendroth: Der Weg zu einer egalitären Gesellschaft. Prinzipien und Praxis der Matriarchatspolitik, 2008, S. 7f.

[7] Matriarchale Spiritualität

„Auf der spirituell-kulturellen Ebene kennen matriarchale Gesellschaften keine religiöse Transzendenz mit einem unsichtbaren, ungreifbaren, unbegreifbaren, aber allmächtigen Gott, demgegenüber die Welt als „Jammertal von Sünde und Leid“ oder gar als „tote Materie“ abgewertet wird. Der matriarchale Begriff von Göttlichkeit ist immanent, denn die gesamte Welt wird als göttlich betrachtet, und zwar als weiblich göttlich. Dies belegen die alten Vorstellungen von der Göttin als Universum, die Schöpferin ist, und der Mutter Erde, die alles Lebendige hervorbringt. Deshalb besitzt alles Göttlichkeit, jede Frau und jeder Mann, jedes Tier und jede Pflanze, der kleinste Stein und der größte Stern.

In einer solchen Kultur ist alles spirituell. In ihren Festen, die dem Jahreszeitenzyklus folgen, wird auch alles gefeiert: die Natur mit ihren verschiedenen Erscheinungen, die verschiedenen Clans mit ihren Fähigkeiten und Aufgaben, die verschiedenen Geschlechter und die verschiedenen Generationen, nach dem Prinzip: Vielfalt ist der Reichtum in allem. Es gibt keine Trennung zwischen dem Sakralen und dem Profanen, deshalb ist auch im alltäglichen Leben jede Handlung wie z. B. Säen, Ernten, Kochen, Weben, Reisen zugleich ein bedeutungsvolles Ritual.

Auf der spirituellen Ebene definiere ich Matriarchate daher als sakrale Gesellschaften und Kulturen des Weiblich-Göttlichen bzw. der Göttin.

Demgegenüber werden in Patriarchaten die religiösen und spirituellen Fähigkeiten der Menschen benutzt, um in Welt- und Staatsreligionen die Prinzipien der Herrschenden zu unterstützen.“

Heide Göttner-Abendroth: Der Weg zu einer egalitären Gesellschaft. Prinzipien und Praxis der Matriarchatspolitik, 2008, S. 10f.

[8] Zur Beantwortung der Frage, woher wir wissen, dass es Matriarchate gab

„Die grundsätzliche Frage hier lautet, wie man etwas Sicheres über das Matriarchat wissen und diese Gesellschaftsform überhaupt definieren kann, wenn dieses Thema doch an den Rand gedrängt und mit Vorurteilen zugeschüttet wurde und wird. Dabei existiert die traditionelle Matriarchatsforschung im deutschsprachigen Raum schon seit langem. Sie begann 1861 mit dem Werk Das Mutterrecht von Johann Jakob Bachofen Kurz davor setzte durch Henry Lewis Morgan die ethnologische Richtung der Matriarchatsforschung ein (1851).

[…] 

Hinzu kommt, dass die kulturhistorisch ausgerichtete Matriarchatsforschung bald an Grenzen stößt. Denn die frühen matriarchalen Kulturen wurden zerstört, es sind nur noch Fragmente und Überreste vorhanden, und diese wurden und werden durch dicke Schichten von patriarchaler Interpretation verzerrt. Auf diese Weise kann man kein vollständiges Bild matriarchaler Gesellschaften gewinnen. Man kann aus der Kulturgeschichte allein nicht mehr herausfinden, wie die Menschen in frühen matriarchalen Gesellschaften lebten, wie sie handelten und feierten, wie sie ihre ökonomische und soziale Ordnung herstellten und wie sie Politik machten. Wenn man nicht Gefahr laufen will, Wissen durch Phantasie zu ersetzen, kann man deshalb nicht die Kulturgeschichte an den Anfang der Erforschung matriarchaler Gesellschaften setzen, sondern muss sich den lebenden Gesellschaften dieses Typs zuwenden, das heißt, es ist notwendig mit der ethnologischen Forschung zu beginnen. […] Deren Bild wurde in jüngster Zeit zunehmend klarer durch die feministische Forschung, welche die Bedeutung der Frauen in diesen Gesellschaften wahrnehmen kann, und insbesondere durch die Stimmen indigener Forscherinnen und Forscher, die am besten in der Lage sind, ihre eigenen Kulturen von innen darzustellen. Auf diese Weise ist es am ehesten möglich, sich einem vollständigen Bild dieser Gesellschaftsform anzunähern.“

Heide Göttner Abendroth: Das Matriarchat – Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats. Band III: Westasien und Europa, 2019, S. 13f.

„Die Mosuo (chinesisch 摩梭, Pinyin Mósuō) oder Moso sind ein matrilinear organisiertes chinesisches Volk mit tibetobirmanischer Sprache, das im Südwesten der Volksrepublik China lebt, insbesondere am Ufer des Lugu-Sees zwischen den Provinzen Yunnan und Sichuan. Seine Bevölkerungsgröße wird auf rund 40.000 Angehörige geschätzt.“

Wikipedia: Mosuo, online, abgerufen am 27.11.2023, https://de.wikipedia.org/wiki/Mosuo

[9] Friedrichs Engels über Umsturz des Mutterrechts

„Der Umsturz des Mutterrechts war die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts. Der Mann ergriff das Steuer auch im Hause, die Frau wurde entwürdigt, geknechtet, Sklavin seiner Lust und bloßes Werkzeug der Kinderzeugung. Diese erniedrigte Stellung der Frau, wie sie namentlich bei den Griechen der heroischen und noch mehr der klassischen Zeit offen hervortritt, ist allmählich beschönigt und verheuchelt, auch stellenweise in mildere Form gekleidet worden; beseitigt ist sie keineswegs. […] und begründete den ersten Klassengegensatz.

Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, 1884, S. 61 & 76, online, http://www.mlwerke.de/me/me21/me21_036.htm 

[10] Moderne Matriarchatsforschung

„Die moderne Matriarchatsforschung ist in den letzten Jahrzehnten entstanden und entwickelt sich rasch weiter. Durch meine Pionierarbeit (seit 1978) hat sie ein wissenschaftliches Fundament erhalten, ohne das sie ihre weitgespannte Aufgabe nicht bewältigen könnte. Diese Aufgabe besteht darin, die matriarchale Gesellschaftsform in ihrer enormen geschichtlichen Tiefe und großen geographischen Reichweite angemessen darzustellen. Ein wissenschaftliches Fundament zu geben heißt:

  • erstens die Formulierung einer adäquaten Definition von „Matriarchat“, welche knapp die notwendigen Merkmale und ausführlich die Tiefenstruktur dieser Gesellschaftsform wiedergibt;
  • zweitens die Entwicklung einer expliziten Methodologie, die alle Phänomene dieses Untersuchungsgebiets: matriarchale Gesellschaften, auffinden und analysieren
  • drittens die Entwicklung eines theoretischen Rahmens, der ein riesiges Maß an Material widerspruchsfrei integrieren kann und damit die große Reichweite der matriarchalen der Gesellschaftsform systematisch umfasst. 

Die erste Forderung für eine wissenschaftliche Fundierung wurde erfüllt mit der oben genannten, strukturellen Definitionmit den notwendigen und hinreichenden Merkmalen für „Matriarchat“. [Anm. d. Verf.: siehe Punkt 3]

Die zweite Forderung wurde erfüllt durch die ausdrückliche Angabe der Methodologie, die für diese Forschung gültig ist. In der traditionellen Matriarchatsforschung wurde eine eigene Methodologie nirgends explizit formuliert. Für die moderne Matriarchatsforschung habe ich schon sehr früh gezeigt, dass eine solche Methodologie auf zwei Säulen beruht: einer weitgespannten Interdisziplinarität und einer tiefgreifenden Ideologiekritik.

Was die Interdisziplinarität betrifft, so ist sie, um eine ganze Gesellschaftsform und ihre Geschichte erfassen zu können, schlicht notwendig. Die Fragmentierung des Wissens, die wesentlich durch die Zerteilung in die traditionellen Disziplinen zustande kommt und größere Zusammenhänge unsichtbar macht, wird auf diese Weise aufgehoben. Im Gegensatz zum Vorgehen in diesen Disziplinen kommt es nicht auf noch mehr Spezialisierung an, sondern auf das Erkennen und Integrieren von gesellschaftlichen und geschichtlichen Zusammenhängen aus den verschiedenen, relevanten Forschungszweigen.“ Die hier notwendige Interdisziplinarität umfasst nicht veniger als sämtliche Geistes- und Kulturwissenschaften, und gelegentlich braucht es auch Resultate aus einzelnen Naturwissenschaften.

Auch die Ideologiekritik braucht eine Methode, um sich nicht selbst wieder in undurchschauter Ideologie zu verfangen. Eine solche Methode wurde schon 1978 von mir skizziert und 1988 ausgearbeitet. 15 In ihr kommt ein Negativ-Verfahren und ein Positiv-Verfahren zur Anwendung.

Im Negativ-Verfahren werden die typischen Vorurteile herausgearbeitet, die zum Thema Matriarchat in der Forschungsliteratur auf Schritt und Tritt vorkommen, bis hin zum Selbstwiderspruch. Dazu ist die Interdisziplinarität von großem Vorteil, denn beim Vergleich von Forschungsmeinungen aus verschiedenen Disziplinen – aber auch schon in einer einzigen Disziplin – enthüllen sich die unvollständigen, einseitigen und verzerrten Darstellungen.

Im Positiv-Verfahren werden die sachlichen Ergebnisse der traditionellen Matriarchatsforschung kritisch gewürdigt, nachdem sie von diesen Vorurteilen befreit wurden. Obwohl diese Ergebnisse in der herkömmlichen Forschung zusammenhanglos bleiben, können sie in den theoretischen Rahmen der modernen Matriarchatsfor-schung eingegliedert werden, wo sie ihren richtigen Ort erhalten. 

Die dritte Forderung ist die Entwicklung eben dieses theoretischen Rahmens für die moderne Matriarchatsforschung. Er muss tragfähig genug sein, um alle Phänomene des Untersuchungsgebietes: matriarchale Gesellschaften, widerspruchsfrei zu integrieren, indem er dafür empirisch bestätigte Erklärungen zu liefern in der Lage ist.

Eine solche Theorie zu schaffen heißt keineswegs, ein geschlossenes System zu formulieren – dies ist eine traditionelle und überholte philosophische Haltung. Stattdessen heißt es, einen zwar systematischen, aber offenen Rahmen zu geben, der klärend und helfend für konkrete Einzelforschung angewandt werden kann.

[…]

Die Basisbleiben dabei genau diese archäologischen Funde, aber es geht darum, sie „zum Sprechen zu bringen“, das heißt zu interpretieren, Die Problematik der bisherigen archäologischen Interpretationsweise liegt darin, dass es, wenn man keine andere Gesellschaftsform als die patriarchale kennt, immer wieder zu unbewusten oder auch bewussten Rückprojektionen von patriarchalen Mustern auf die Kulturgeschichte kommt.“

Heide Göttner Abendroth: Das Matriarchat – Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats. Band III: Westasien und Europa, 2019, S. 17ff.

[11] Zur Beantwortung der Frage, warum wissen wir so wenig darüber wissen

Exemplarisch Prähistoriker Prof. Hermann Parzinger auf die Frage, was Hochkultur auszeichnet:

[Parzinger:] „In erster Linie, dass sich feste Institutionen gebildet haben, politische wie auch religiöse. Nur bestimmte Personen gehören dabei zum inneren Zirkel, sogenannte Eliten, und sie gebieten […] über zahllose Gefolgsleute. Politische Herrscher legen steuern fest, sie kontrollieren den Zugang zu Rohstoffen wie Metall oder zu Handelsgütern wie Textilien oder Schmuck. Auch Priester nehmen oft Führungspositionen ein, sie regeln den kultisch-religiösen Bereich in Tempeln […].“ 

Je mehr Menschen zusammenleben, so Parzinger, desto eher braucht eine Gesellschaft Führungspersönlichkeiten, die Entscheidungen treffen. Es bilden sich Eliten.

Prof. Hermann Parzinger, vgl. GEOkompakt: Die Geburt der Zivilisation. Der Aufbruch des Menschen in die Moderne, 2013, S. 26

„Siedlungen mit mehreren zehntausend Einwohnern scheint es auf nahezu allen Kontinenten zum ersten Mal vor etwa sechstausend Jahren in der Jungsteinzeit (Neolithikum) gegeben zu haben, vor allem in Mesopotamien, Ägypten und Nordchina, auch im Indus-Tal im Nordwesten des indischen Subkontinents, in Mittelamerika, Peru und im minoischen Kreta. Bei den frühesten Städten finden sich sehr unterschiedlicher Modelle gesellschaftlicher Organisation. Diese neuen Formen gesellschaftlicher Organisation waren, nach gegenwärtigem Erkenntnisstand, keineswegs allein durch materielle und ökologische Bedingungen oder durch technologische Fortschritte bedingt. Auch die Gruppengröße allein stellt kein geeignetes Kriterium zur Vorhersage der Art der sozialen Organisation dar.

Vielmehr findet sich unter jeder dieser Randbedingungen neben hierarchischen Organisationsformen auch ein breites Spektrum an nichthierar-chischen, nicht zwangsbasierten oder elitezentrierten gesellschaftlichen Organisationsweisen. Die weitverbreiteten Vorstellungen zur Zivilisationsgeschichte, die zwischen steigender gesellschaftlicher Größe und Komplexität einerseits und den Formen einer Elitenherrschaft andererseits einen notwendigen, gleichsam gesetzhaften Zusammenhang suggerieren, sind auf der Basis vorliegender Befunde empirisch nicht haltbar. Derartige Vorstellungen beruhen selbst lediglich auf Projektionen gegenwärtiger ideologischer Vorurteile über gesellschaftliche Organisation auf frühere Phasen der Zivilisationsgeschichte.“

– Rainer Mausfeld: Hybris und Nemesis. Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt – Einsichten aus 5000 Jahren, 2023, S. 106

– vgl. dazu auch: David Graeber / David Wengrow: Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit, 2023

[12] Demokratietheoretische und -praktische Relevanz für die Gegenwart

6 Elemente der Basisdemokratie (Willensbildung von unten nach oben)

  1. Basisgemeinschaften
  2. Echte Subsidiarität
  3. gegliederter Konsens (Männer- und Frauenrunden)
  4. direkte Demokratie (Debatte & Abstimmungen)
  5. Rätesystem (paritätische Delegation; Hin- und Hergehen bei Dissens) 
  6. gebundenes Mandat
– vgl. Gandalf Lipinski: Geschichte, Gegenwart und Perspektiven der Basisdemokratie, Vortragsskript, 24.09.2022, S. 2-3

[13] Friedrichs Engels / Lewis Morgen über Demokratie

Demokratie […] wird eine Wiederbelebung sein – aber in höherer Form der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der alten mutterrechtlichen Sippen.“

Friedrich Engels zitiert Henry Morgan in: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, 1884, S. 200

[14]  Claudia von Werlhof über mutterrechtliche Zivilisation

„Frauen sind nicht die besseren Menschen. Aber sie haben die bessere Zivilisationsform hervorgebracht: die matriachale. […] eine Gesellschaftsform, die danach strebt, dass es allen gut geht.“

– Claudia von Werlhof (kritische Patriarchatsforscherin)

[15] Quellen-Empfehlungen von Gandalf Lipinski zur Folge ‚Matriarchat‘

  • Heide Göttner Abendroth: Das Matriarchat III – Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats. Band III: Westasien und Europa, 2019 [Hauptwerk – „Tomatensoße“]
  • Heide Göttner Abendroth: Der Weg zu einer egalitären Gesellschaft, 2008 [Quintessenz – „3-fach konzentriertes Tomatenmark“]
  • Heide Göttner Abendroth: Am Anfang die Mütter, 2011

Weitere Empfehlungen

  • Heide Göttner Abendroth: Das Matriarchat I – Geschichte seiner Erforschung. Band I, 1995
  • Heide Göttner Abendroth: Das Matriarchat II –  Stammesgesellschaften in Amerika, Indien, Afrika. Band II, 2000
  • Heide Götter Abendroth/Kurt Derungs (Hg.): Matriarchate als herrschaftsfreie Gesellschaften, 1997
  • Heide Göttner Abendroth, Claudia von Werlhof u.a.: Die Diskriminierung der Matriarchatsforschung, 2003
  • Marija Gimbutas: Die Zivilisation der Göttin, 1996
  • Marija Gimbutas: Die Sprache der Göttin, 1995
  • Maria Mies: Das Dorf und die Welt, 2009

Mit <3 recherchiert und publiziert

MARIUS